Eine Leistungsbezieherin beantragte bei der Deutschen Rentenversicherung eine Erwerbsminderungsrente. Die Rentenkasse lehnte den Antrag wegen fehlender Mitwirkung ab. Über diese Ablehnung wurde jedoch lediglich das Jobcenter informiert, nicht die Antragstellerin selbst.
In Reaktion entzog das Jobcenter sämtliche Leistungen nach § 5 SGB II – aus seiner Sicht, weil die Betroffene “ihrer Obliegenheit zur Sicherung vorrangiger Sozialleistungen nicht nachgekomme”n sei. Genau hier setzte das Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) Berlin an.
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§ 5 SGB II bei vorrangigen Leistungsansprüchen
§ 5 Abs. 3 SGB II ermächtigt das Jobcenter, Transferleistungen zu versagen oder zu entziehen, wenn Leistungsberechtigte trotz Aufforderung keinen erforderlichen Antrag auf eine andere Sozialleistung stellen und dieser Antrag daraufhin von der Behörde selbst gestellt, aber später bestandskräftig abgelehnt wird.
Das Gesetz verlangt also zwei Voraussetzungen: Erstens muss das Jobcenter die Antragstellung ausdrücklich verlangen; zweitens muss das Jobcenter den Antrag tatsächlich selbst stellen, falls die Betroffenen untätig bleiben. Scheitert hingegen ein eigeninitiativ gestellter Antrag, fehlt es laut Wortlaut an der gesetzlichen Grundlage für eine Sanktion.
Warum scheiterte der Rentenantrag der Mandantin?
Die Rentenversicherung versagte die Erwerbsminderungsrente wegen angeblich unzureichender Mitwirkung. Häufig bedeutet dies, dass ärztliche Atteste, Fragebögen oder Untersuchungen nicht oder nur teilweise vorgelegt wurden.
In der Praxis kann ein solcher Vorwurf rasch entstehen, wenn Terminladungen nicht rechtzeitig eingehen oder gesundheitliche Einschränkungen die Mitwirkung erschweren.
Dass diese Entscheidung allein an das Jobcenter weitergeleitet wurde, verschärfte den Konflikt: Die Betroffene hatte keine Gelegenheit, ihre Sicht darzustellen oder fehlende Unterlagen nachzureichen, bevor ihr das Existenzminimum entzogen wurde.
Durfte das Jobcenter die Leistungen wegen „fehlender Mitwirkung“ einfach einstellen?
Nach Auffassung des SG Berlin war der Leistungsentzug rechtswidrig. Entscheidend war, dass der Rentenantrag von der Mandantin selbst stammte. Ein selbst gestellter Antrag eröffnet den Anwendungsbereich des § 5 Abs. 3 SGB II gerade nicht, weil das Gesetz vom Antrag des Jobcenters ausgeht.
Fehlt diese Voraussetzung, darf das Jobcenter auch dann keine Grundsicherungsleistungen streichen, wenn die Rentenversicherung ihrerseits eine Versagung ausgesprochen hat.
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Wie begründete das Sozialgericht Berlin seine Entscheidung konkret?
Das Gericht stellte klar, dass nur bei Anträgen, die das Jobcenter selbst initiiert, eine Versagung nach § 5 Abs. 3 SGB II möglich ist. Andernfalls handele es sich um einen unzulässigen Eingriff in den existenzsichernden Leistungsanspruch nach dem Bürgergeld‑Gesetz.
Wörtlich heißt es: „Vorliegend hat nicht der Antragsgegner, sondern die Antragstellerin selbst den Antrag bei der Rentenversicherung gestellt, sodass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II schon nach seinem Wortlaut keine Anwendung finden.“ Der Beschluss (Az. S 127 AS 3296/24 ER) verpflichtete das Jobcenter zur fortlaufenden Zahlung.
Weitere Urteile in ähnlich gelagerten Fällen
Bereits das Landessozialgericht Niedersachsen‑Bremen hatte 2019 (L 9 AS 538/19) entschieden, dass § 5 SGB II keine Anwendung findet, wenn der Antrag nicht vom Jobcenter stammt.
Ähnlich urteilte Anfang 2024 das LSG Sachsen (L 4 AS 567/23 B ER). Der Berliner Beschluss bestätigt damit eine Linie, die Verwaltungsgerichte seit Jahren vorgeben: Sanktionen nach § 5 SGB II setzen ein präzises behördliches Vorgehen voraus.
Was sollten Betroffene tun, wenn ihre Leistungen nach § 5 SGB II entzogen werden?
Zunächst ist es entscheidend, den Bescheid auf eine konkrete, schriftliche Aufforderung des Jobcenters zur Antragsstellung zu prüfen. Fehlt diese oder lässt sich das Jobcenter nicht nachweislich als Antragsteller identifizieren, ist Widerspruch geboten.
Gleichzeitig empfiehlt sich, Einsicht in die Akten zu verlangen, um festzustellen, ob und wie das Jobcenter seine Mitwirkungspflichten dokumentiert hat. In vielen Fällen bietet sich parallel eine einstweilige Anordnung vor dem Sozialgericht an, um existenzsichernde Leistungen schnell wiederzuerlangen.
Wie lautet das Fazit aus Sicht der Rechtsprechung und der Praxis?
Der Beschluss des SG Berlin zeigt, dass gesetzliche Sanktionsnormen eng auszulegen sind, wenn sie in das verfassungsrechtlich geschützte Existenzminimum eingreifen. Den Jobcentern wird gezeigt, dass formale Fehler nicht auf dem Rücken Hilfebedürftiger ausgetragen werden dürfen.