Hartz IV-Bildungspaket: Ein kleiner Schritt gegen Ungerechtigkeit – ein großer Schritt zur Chancengleichheit
28.10.2013
„Nach bald drei Jahren „Bildungs- und Teilhabepaket“ für Kinder, deren Eltern unter Hartz IV leiden, könnte das jüngst vom Sozialgericht Braunschweig veröffentlichte Urteil vom 8. August endlich ein erster Durchbruch für Chancengleichheit aller Kinder sein“, stellt Hartz4-Plattform-Sprecherin Brigitte Vallenthin fest. „Zum Thema Nachhilfeunterricht hat das Gericht die pädagogische Inkompetenz der Jobcenter endlich in ihre Schranken gewiesen und den Weg geebnet, damit die Gelder des Bundes für Bildungsgerechtigkeit nicht weiterhin zum größten Teil von kommunalen Schlaglöchern verschluckt werden.“
Jobcenter nutzen dehnbaren Gesetzestext für Schlaglöcher statt für Kinder
Bundesweit haben sich bislang die Jobcenter den im Sozialgesetzbuch Zwei – nach allgemeinem Sprachgebrauch Hartz IV – gerne bemühten unbestimmten Rechtsbegriff „angemessen“ auch bei der Verweigerung von Leistungen für Nachhilfeunterricht aus dem Bildungs- und Teilhabe-Paket (BuT) ausgenutzt – und zwar überwiegend im eigenen und gegen das Interesse von Kindern. Hierfür hat ihnen der Gesetzgeber reichlich Spielraum eingeräumt, indem er im § 28 SGB II die „angemessene Lernförderung“ kaum erreichbar hoch gehängt und an die Voraussetzungen gebunden hat, „soweit diese geeignet und zusätzlich erforderlich ist, um die nach den schulrechtlichen Bestimmungen festgelegten wesentlichen Lernziele zu erreichen.“ Kurzerhand haben die Jobcenter – ohne auch nur andeutungsweise über pädagogisch erfahrenes, noch nicht einmal geschultes Personal zu verfügen – als wesentliches Lernziel definiert: Versetzung ja oder nein. Keine Versetzungsgefahr: kein Nachhilfeunterricht! Das funktioniert, weil der Gesetzestext wenig Chancengerechtigkeit für Bildung jedoch umso mehr Ablehnungsgründe vorhält, um am Ende den Geldsegen des Bundes in kommunale Haushalte fließen zu lassen. Und das geschah mutmaßlich nicht so ganz unbeabsichtigt, denn den Kommunen wurde gleichzeitig erlaubt, nicht verbrauchte BuT-Gelder nicht nur nicht zurückzahlen zu müssen, sondern sie obendrein noch nach eigenem Gutdünken verwenden zu können. „Dieser unklare Gesetzeswortlaut ist ein Skandal und bedarf dringender Änderung“, fordert Brigitte Vallenthin. „Denn in der aktuell von den Jobcentern überwiegend restriktiv umgesetzten Form ist er nichts anderes als eine Einladung, die Einnahmen der Kommunen unkontrolliert aufzustocken und zugleich Chancengerechtigkeit auf Bildung weiterhin auszubremsen.“
Nachhilfe nur bei Versetzungsgefahr gekippt zugunsten von Chancengleichheit
Fast drei Jahre lang ist inzwischen das Bildungs- und Teilhabe-Paket skandalös gescheitert. Das war zu erwarten. Jetzt endlich holt das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig eine erste überfällige Konkretisierung nach – und zwar zugunsten der betroffenen Kinder. Mit seiner Entscheidung bezieht sich das Gericht ausdrücklich auf das Hartz IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09. Feb. 2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) und den darin vorgegebenen „Anspruch auf Chancengleichheit“ als Bestandteil des „unverfügbaren menschenwürdigen Existenzminimums“. Die 17. Kammer des Braunschweiger Sozialgericht beruft sich gleichzeitig auf die Gesetzesbegründung zum § 28 SGB II. Danach solle „durch zielgerichtete Leistungen eine stärkere Integration bedürftiger Kinder und Jugendlicher in die Gemeinschaft erreicht“ werden (BT-Drs. 17/3404). Und weiter heißt es „Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben sind erforderlich, um die materielle Basis für Chancengerechtigkeit herzustellen. Insbesondere Bildung kommt bei (…) zukünftigen Lebenschancen eine Schlüsselfunktion zu.“ Die entsprechende „materielle Ausstattung“ sei zu erbringen, „um gesellschaftliche Exklusionsprozesse zu beenden.“
Integration aller Schüler – statt gesellschaftlicher Exklusion
Das Gegenteil aber war bislang im tatsächlichen Verwaltungshandeln der Fall. Denn gerade die praktizierte restriktive Verweigerung von Nachhilfeleistungen hat diesen Ausschluss von armen Kindern aus der Gesellschaft sogar noch befördert. Integration in die Gesellschaft durch Chancengerechtigkeit könne nach Auffassung des Braunschweiger Sozialgerichts nicht erreicht werden, wenn sich die Jobcenter alleine am Kriterium Versetzungsgefahr orientierten. Vielmehr, so die Richter, sei „wesentliches Lernziel nicht nur die Versetzung (…), sondern z.B. auch das Erreichen eines ausreichenden Lernniveaus.“ Und das könne selbst dann die Nachhilfe sinnvoll erscheinen lassen, wenn sich die Note nicht verbessert, sondern wenn sich „die Note nicht verschlechtert.“
Sozialgericht Braunschweig verurteilt Jobcenter zur Übernahme von Nachhilfe-Kosten
„Mit seiner Entscheidung zugunsten der Kinder hat nun endlich die 17. Kammer des Sozialgerichts Braunschweig diesem beschämenden Treiben einen Riegel vorgeschoben“, stellt die Hartz4-Plattform-Sprecherin fest. Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil und die Forderung der Karlsruher Richter – ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ sicher zu stellen – haben die Braunschweiger Richter eine begrüßenswerte Konkretisierung des Begriffs „wesentliches Lernziel“ vorgenommen. Sie stellen überzeugend fest, dass – entgegen der üblichen kostensparenden zeitlichen Begrenzung durch die Jobcenter – Nachhilfeunterricht auch dauerhaft von den Behörden finanziert werden müsse. Denn – so die Presseerklärung des Sozialgerichts vom 22. Oktober 2013 – „ durch den Nachhilfeunterricht werde das Angebot der Schule sinnvoll ergänzt. Der zusätzliche Unterricht diene dem Ziel, dass der Kläger die Bildung erlangt, die er für seinen künftigen Berufsweg benötigt.“ Dass es aktuell kaum mehr möglich ist, ohne Nachhilfe-Begleitung durch die Schule zu kommen, macht der Umstand, dass solche dauerhafte Ergänzung des Schulunterrichts für Kinder, deren Eltern es sich leisten können, inzwischen normaler Alltag ist.
Bildungsgelder weiter in Schlaglöcher – oder Bestätigung vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen für Chancengerechtigkeit?
„Diese gesellschaftliche Realität auch Kindern aus armen Familien nicht weiterhin zu verweigern, ist das dankenswerte Verdienst der richterlichen Entscheidung der 17. Kammer des Braunschweiger Sozialgerichts“, begrüßt Brigitte Vallenthin dieses Urteil. „Da aber selbst der Hoffnung begründende Urteilswortlaut ganz offensichtlich das von jeglicher pädagogischen Erfahrung und Einsicht meilenweit entfernte Jobcenter nicht überzeugen konnte, ist die Behörde in Berufung gegangen. Man kann nur hoffen, dass das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in Celle mehr pädagogisches Einfühlungsvermögen für die betroffenen Kinder beweist und mit dem nötigen Verantwortungsbewusstsein einer drohenden Entwicklung durch mangelhafter Ausbildung ihrer Jugend im Sinne gesellschaftlichen Friedens für die Zukunft laut hörbar einen Riegel vorschiebt.“ (BV)
Bild: Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de
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