Hartz IV: Katzenjammer der Systemschmarotzer

Lesedauer 5 Minuten

von Norbert Hermann

20.07.2011

Schaut mensch sich die politischen und wissenschaftlichen Beiträge und Analysen zum Thema Arbeitslosigkeit aus den frühen 80er Jahren an (1) und vergleicht es mit dem Genöle der Sozialticket- und Bürgerarbeit-Befürworter/innen der Hartz IV Neuzeit, so fällt neben dem bemerkenswert abgesunkenen Niveau der aktuellen Diskussionen insbesondere die Flachheit der Analyse und daraus resultierender Forderungen ins Auge.

Aktuell startet eine Kampagne der Sozialklempnerei-Konzerne (2), die aus dem spätes­tens mit Hartz IV durchgesetzten Paradigmenwechsel („Keine Leistung ohne Gegenleis­tung“) Vorteile ziehen. Das wird zu Recht als „Systemschmarotzerei“ bezeichnet. Sie schieben vor, sich für die Menschen einsetzen zu wollen, „alle mitnehmen“ zu wollen und „keinen zurückzulassen“ – und schieben doch alle ab in Ersatzbeschäftigungen – idR anspruchslos, schlecht angesehen, kaum bezahlt, aber Sozialticket.

Sie „wollen keine Zweiteilung des Arbeitsmarktes!“ und zementieren ihn dennoch, in dem sie für die „Überflüssigen“ eine Ausweitung der „öffentlich geförderten Beschäftigung“ for dern. Ihre Forderungen nach einem „arbeitsmarktpolitischen Kurswechsel!“ beinhalten bei genauerem Hinsehen die Forderung nach einem Beibehalten des Paradigmenwechsels.

Sie schieben „Weniger gut qualifizierte, ältere Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen und chronisch Erkrankte“ vor, um alle für krank und therapiebedürftig zu erklären. „Wir brauchen passgenaue Hilfen und Perspektiven für jeden einzelnen.“ „Gerade seelisch behinderte Menschen haben in der Vergangenheit beispielsweise von der Förderung mit tels Beschäftigungszuschuss profitieren können.“

Den meisten Erwerbslosen fehlt nichts als ein Arbeitsplatz, irgendeine Medikation oder Sozialbearbeitung ist gar nicht nötig. In Neusprech wird ihnen „Minderleistung“ unterstellt – das ist schäbigste Diskriminierung! „Freiwillig“ soll die Teilnahme an der Arbeitsbeschaf fungsmassnahme sein – wie Ertrinkende hoffen nicht wenige auf diesen Strohhalm. Auch sollen „tarifpolitischer Standards“ eingehalten werden, allerdings ohne Mindestlohngebot und mit staatlicher Subventionierung der „Arbeitgeber“. Inzwischen wachen auch Gewerkschaften auf (insb. Ver.di und die IGM) und beginnen, sich zu wehren gegen diese systematische und zielstrebige Unterhöhlung von Arbeitnehmerpositionen. Ursache der hohen Arbeitslosigkeit ist die neoliberale Gier nach zweistelligen Renditen und die Zuführung zusätzlicher Kräfte in den Arbeitsmarkt (s.u.). Ziel: eine weitere Zunahme der Subventionierung der Reichen durch die Armen (7).

Zum Schluss lassen sie die Katze aus dem Sack:
Es „brauchen die Leistungserbringer in der Arbeitsförderung (so etwa Beschäftigungsun ternehmen, Träger der Fort- und Weiterbildung) rechtliche und finanzielle Sicherheit.“ Und die GRÜNEN fordern für ihre Klientel: „Sozialarbeiterische Betreuung ein fester Bestand teil“ und: „Der Einsatz erfolgt“ … „sowohl privatwirtschaftlich wie gemeinwohlorientiert“ … „in Wirtschaftsunternehmen und bei gemeinnützigen Trägern“ …ohne „Begrenzung auf zusätzliche und gemeinnützige Arbeitsfelder“ (6).

Menschen mit Behinderungen
Menschen mit Behinderungen haben oftmals nur über Arbeitsgelegenheiten (AGH) oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, am Erwerbsleben teilzu­nehmen. Diese Möglichkeiten sind durch die Neuordnungen des SGB II und SGB XII in 2005 verschlechtert worden. Derartige Verschlechterungen für die Betroffenen sind zu kor rigieren. Menschen mit Behinderungen usw. sind über den "Nachteilsausgleich" zu för dern, nicht über sog. "Arbeitsmarktpolitik". Massgeblich sind hier die Normen des SGB IX iVm dem SGB XII und die immer noch ausstehende Umsetzung des Artikel 24 der UN-Konvention (3).

„Raus aus der Sozialhilfe — rein in eine selbstbestimmte Lebensform!“
Seit 1983 ist wiederholt von Verbänden der psychosozialen Versorgung darauf hingewie sen worden, daß sich psychosoziale Schädigungen als Folge von Massenarbeitslosigkeit konstatieren lassen, welche sich bei Eintreten der prognostizierten Entwicklung eines weiteren Ansteigens der Arbeitslosenzahlen noch erheblich verschärfen werden. Beachtet wird das nicht.

Die „Überflüssigen“
Die „Überflüssigen“ sind idR so dumm nicht. 50 % der Hartz IV-Berechtigten in Bochum verfügen über einen Berufsabschluss, manche gar über einen akademischen, und viele können eine zwar gebrochene, aber durchaus vielfältig qualifizierende Karriere vorweisen. Auch jene, die keinen „Schein“ vorweisen können, sind idR nicht dumm: sie sind erfahrene Maschinenführer, Kraftfahrer, Baggerführer, Landschaftsgärtner usw.. Ihre Arbeitsplätze sind auch nicht wegautomatisiert oder nach China ausgelagert, sondern werden von zuvor arbeitslos gemachten Besserqualifizierten ausgefüllt, die aus Angst vor Hartz IV jede schlechte Arbeit für jedes kleine Geld übernehmen.

Die „Überflüssigen“ sind zu "fördern" über Arbeitszeitverkürzung, Zurücknahme der Arbeitsverdichtung, Abkehr vom Arbeitswahn, Um- / Fortbildung, Förderung der Konver­sion (weg von Konsum und Zerstörung, hin zu sozialer Dienstleistung) und weitere gesell schaftspolitische Korrekturen.

Rasante Entwicklung des Arbeitsvolumens
Die Verfassung des Landes NRW postuliert: „Der Lohn muss der Leistung entsprechen und den angemessenen Lebensbedarf des Arbeitenden und seiner Familie decken.“ (4) Die Entlohnung einer Vollzeitarbeitskraft (heute: 30 – 35 Wochenstunden) deckt schon lange nicht mehr „den angemessenen Lebensbedarf des Arbeitenden und seiner Familie“. Hier muss über einen hohen Mindestlohn und einen Familienlastenausgleich nachgebes sert werden. Wie Familieneltern diese „Vollzeit“ untereinander aufteilen soll ihnen überlas sen bleiben. Weil das Geld nicht reicht wird mehr und mehr gearbeitet: Überstunden, Mitarbeit des zweiten Elternteils, Kinderarbeit, Zweit- und Drittjob usw.

Das Arbeitsvolumen wächst und wächst:.
Die Entwicklung des Arbeitsvolumens ist am übersichtlichsten dokumentiert bei der Bun desanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Gezeigt wird die Anzahl der gesamten Versicherten mit Gesamtstundenzahl. Teilzeitstellen sind auf Vollzeitstellen kumuliert, Gesamtstunden addiert. Der Sprung 1990/91 ist gut dokumentiert.

Nicht (freiwillig) unfallversicherte Selbständige sind hier nicht enthalten. Das dürften jeweils etwa fünf % zusätzlich sein.

Zeitreihen – Entwicklung der Basiszahlen ab 1960 (5)

Vollarbeiter 1970: 25 Mio. mit 37.496 Mio. Arbeitstunden
Vollarbeiter 1990: 30 Mio. mit 40.639 Mio. Arbeitstunden
Vollarbeiter 1991: 37,1 Mio. mit 47.600 Mio. Arbeitstunden
Vollarbeiter 2009: 37,7 Mio. mit 49.144 Mio. Arbeitstunden

In 2010 gab es einen kleinen Rückgang, der aber fast wieder aufgeholt ist. Die Gesamtbeschäftigtenzahl liegt jetzt bei mehr als 40 Mio. inkl. Teilzeit und „nicht versi cherungspflichtig“. Im früheren Bundesgebiet wurden im Jahr 1970 von jedem Erwerbstätigen durchschnittlich 1.966,4 Arbeitsstunden geleistet, im Jahr 1991 waren es 1.558,8 Arbeitsstunden.

Derzeit sind in der Europäischen Union – abhängig von der Zählweise – etwa 63 % der Erwerbsfähigen auch erwerbstätig. Angestrebt wird mit der Agenda „Europa 2020“ eine Beschäftigungsquote iHv 75 % der 20 – 65jährigen! Merke: Nur wer arbeitet schafft Mehrwert! Und ist unter Kontrolle!

Weg mit Hartz IV!
„Und was dann?“ fragen manche. Sollen die Menschen verhungern? Nein, dann tritt zumindest die relativ stressfreie Sozialhilfe des SGB XII ein, am besten mit der Regelung des 4. Kap., wonach Angehörige weitestgehend von Unterhaltsverpflichtungen verschont bleiben. Sozialpolitische Akteure jeglicher (menschenfreundlichen) Couleur können sich gut einigen auf den Begriff einer „ausreichenden und repressionsfreien Grundsicherung“. Arbeitsförderung findet dann für alle statt nach den Möglichkeiten des SGB III – und bes ser!

Aussichten:
Wie die Erfahrungen auf vd. politischen Gebieten der vergangenen Jahrzehnte zeigen, sind Verbesserungen /Rücknahmen von Verschlechterungen nur zu erwarten, wenn wir die politischen und sozialen Kosten von Arbeitslosigkeit erhöhen. Die derzeitig drohende Massenverelendung birgt die Möglichkeit der Erschütterung des politischen Systems in sich. Das sollten sie bedenken!

Quellen:

(1) Zum Arbeitslosenkongress im Dezember 1982 in Frankfurt kommen ungefähr 2000 Arbeitslose aus dem ganzen Bundesgebiet.

„In den USA sind die Arbeitslosen-Selbsthilfe- Gruppen in eine Lohndrückerfunktion abge glitten.“

Es „ist zu hoffen, daß der DGB das Problem der konkreten, über arbeitsmarktpolitische Forderungen hinausgehenden Interessenvertretung der Arbeitslosen ebenfalls ernster nimmt als bislang“ … „Zumindest auf einer arbeitsmarktpolitischen Ebene kann allerdings nur der konsequente Einsatz der Gewerkschaften für eine Umverteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens das Problem der Massenarbeitslosigkeit angehen und eine solidarische Basis schaffen zwischen den Beschäftigten, die unter der Belastung durch ihre Arbeitstä tigkeit und den Arbeitslosen, die unter dem Streß durch zwangsweise Unterauslastung und dem mit Arbeitslosigkeit verknüpften sozialen Abstieg leiden.“ (Zitate aus 1983).

(2) Aufruf „Der Paritätische“: „Arbeitsmarktpolitik für alle“ – Rücknahme der Sparbe­schlüsse – Umkehr bei Instrumentenreform

download Anschreiben:

download Aufruf:

(3) Am 13. Dezember 2006 wurde durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen (= United Nations – UN) ein neuer Vertrag mit Zusatzprotokoll verabschiedet – die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“.

http://www.lebenshilfe.de/wDeutsch/aus_fachlicher_sicht/downloads/unkonvention.pdf

Gesetzentwurf der Bundesregierung:

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/108/1610808.pdf

(4) Verfassung NRW Artikel 24:

(1) Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des Menschen. Der Schutz seiner Arbeitskraft hat den Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes. Jedermann hat ein Recht auf Arbeit.

(2) Der Lohn muß der Leistung entsprechen und den angemessenen Lebensbedarf des Arbeitenden und seiner Familie decken. Für gleiche Tätigkeit und gleiche Leistung besteht Anspruch auf gleichen Lohn. Das gilt auch für Frauen und Jugendliche.

http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_II/II.2/Gesetze/Verfassung_NRW.jsp

(5) http://www.baua.de dort:

und

http://www.baua.de/de/Publikationen/Broschueren/A74.pdf?__blob=publicationFile&v=6

(5)

(6)

(7) http://www.taz.de/Debatte-EU-Schuldenkrise/!74694/

mehr zum Thema workfare und Würgerarbeit (auch linke Spalte beachten!):

http://www.bag-plesa.de/ord/_themen/workfare/index-workfare.html

http://www.bag-plesa.de/ord/_themen/workfare/2011-06-15-flyer/11_06_18_buergerarbeit.pdf

Kommunale Arbeitsmarktstrategie in Dortmund

Unter einer lokal wirksamen Arbeitsmarktstrategie firmiert u.a. Bürgerarbeit in Kooperation mit den sog. freien Trägern (Trägerfirmen) einschließlich des DGB-Projektes zur „Guten Arbeit“.

Der „soziale Arbeitsmarkt“ auch „öffentlicher Beschäftigungssektor“ genannt, ist ein Arbeitsmarkt, in dem Erwerbslose unter Zwang alle angebotene Arbeit annehmen müssen. Das Motto lautet: Keine Leistung ohne Gegenleistung.

Jede Arbeit gilt als zumutbar, auch wenn Mensch mit dem Einkommen kein Aus-kommen hat und keine unsubventionierte Rente erwirtschaften kann.

Damit wird im großen Umfang Arbeiten in Niedriglöhnen angeboten, die Druck auf die Löhne und auf das bestehende Arbeitsrecht der Beschäftigten erzeugen.

Der Bezirkserwerbslosenausschuss Ver.di Dortmund lehnt den „sozialen Arbeitsmarkt“ ab. Von Lohnarbeit muss Mensch leben können und ohne auch.