Dass eine Mutter plötzlich sagt, sie könne die Fenster nicht mehr putzen, wirkt im ersten Moment wie ein reines Alltagsproblem. In vielen Familien ist es aber der Moment, in dem zum ersten Mal offen ausgesprochen wird, dass Kraft, Gleichgewicht, Ausdauer oder Sicherheit nachlassen.
Fensterputzen ist körperlich anspruchsvoll: Arme über Schulterhöhe, Drehbewegungen, längeres Stehen, manchmal sogar ein Tritt oder eine Leiter. Wer dabei unsicher wird, reagiert oft vernünftig und lässt es bleiben, weil die Sturzgefahr steigt. In der Praxis ist das häufig weniger „Bequemlichkeit“ als eine stille Risikoabwägung.
Genau hier entsteht die naheliegende Frage: „Bekommt sie jetzt einen Pflegegrad?“ Und ebenso häufig folgt die Enttäuschung, wenn die Pflegekasse erklärt, dass Hausarbeit allein dafür meist nicht ausreicht. Das ist kein Ausdruck mangelnder Wertschätzung für Belastungen im Haushalt, sondern eine Konsequenz daraus, wie Pflegebedürftigkeit in Deutschland definiert und begutachtet wird.
Pflegegrad ist keine Haushaltshilfe – und trotzdem kann der Haushalt der Anfang der Geschichte sein
Ein Pflegegrad soll vor allem dann greifen, wenn jemand im Alltag in seiner Selbstständigkeit eingeschränkt ist und deshalb regelmäßig Unterstützung benötigt. Gemeint ist nicht nur Pflege im engeren Sinn, sondern das gesamte Spektrum dessen, was Menschen brauchen, um ihren Tag verlässlich zu bewältigen: sich fortbewegen, sich orientieren, sich versorgen, Medikamente und Behandlungen handhaben, den Tagesablauf strukturieren und Kontakte halten.
Hausarbeit ist dabei ein Sonderfall. Sie kann sehr belastend sein und im Alter schnell „zu groß“ werden. Trotzdem entscheidet sie in der Pflegebegutachtung in der Regel nicht darüber, ob überhaupt ein Pflegegrad vergeben wird.
Wer nur deshalb Hilfe braucht, weil die Fenster nicht mehr geputzt werden können, erfüllt häufig nicht automatisch die Voraussetzungen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Unterstützung gibt – sondern eher, dass man genauer hinschauen muss, ob hinter dem „Fenster-Thema“ weitere Einschränkungen stehen, die im Begutachtungssystem eine Rolle spielen.
Wie Pflegebedürftigkeit heute beurteilt wird
Die Pflegebegutachtung fragt nicht: „Welche Tätigkeiten fallen schwer?“ Sie fragt: „Wie selbstständig ist die Person in typischen Lebensbereichen – und welche Hilfe ist notwendig?“ Dazu arbeitet das System mit sechs Lebensbereichen, in denen Einschränkungen bewertet und anschließend unterschiedlich gewichtet werden. Am Ende entsteht ein Gesamtpunktwert, aus dem der Pflegegrad abgeleitet wird.
Pflegebedürftigkeit beginnt im Begutachtungssystem ab einem Gesamtpunktwert von 12,5 Punkten. Pflegegrad 1 liegt im Bereich von 12,5 bis unter 27 Punkten.
Ab 27 Punkten kommt Pflegegrad 2 in Betracht, danach steigen die Pflegegrade mit zunehmender Beeinträchtigung. Diese Schwellen sind nicht bloß Theorie: Sie entscheiden darüber, ob Leistungen wie Entlastungsbetrag, Beratung, Pflegehilfsmittel oder – ab Pflegegrad 2 – Pflegegeld und Pflegesachleistungen gewährt werden.
Wo die Haushaltsführung im Gutachten auftaucht – und warum sie meist nicht entscheidet
Die Begutachtung blendet Haushaltstätigkeiten nicht vollständig aus. Sie werden erfasst, allerdings als „weitere versorgungsrelevante Informationen“. In den Richtlinien zur Pflegebegutachtung wird die Haushaltsführung ausdrücklich beschrieben, einschließlich typischer schwerer Reinigungsarbeiten. Fensterputzen wird dort beispielhaft als körperlich schwere Haushaltstätigkeit genannt. Das wirkt zunächst so, als müsse es doch „zählen“.
Der entscheidende Satz steht allerdings in den Informationen des Medizinischen Dienstes für Versicherte: Einschränkungen bei außerhäuslichen Aktivitäten und bei der Haushaltsführung werden festgestellt, fließen aber nicht in die Berechnung des Pflegegrades ein. Sie dienen der besseren Planung von Versorgung und Beratung. Übersetzt heißt das:
Die Aussage „Sie kann keine Fenster mehr putzen“ kann im Gutachten vorkommen, sie ist aber normalerweise nicht der Hebel, der den Punktwert über die Schwelle hebt.
Das ist wichtig zu verstehen, weil sonst Erwartungen entstehen, die das System nicht erfüllt. Wer sich auf „Fensterputzen“ als Hauptargument stützt, riskiert, am Ende einen ablehnenden Bescheid zu bekommen – obwohl es tatsächlich Bedarf an Unterstützung gibt. Der bessere Weg ist, die Frage anders zu stellen: Welche Einschränkungen stecken hinter dieser einen Tätigkeit, und zeigen sie sich auch in Bereichen, die in die Bewertung eingehen?
Wann ein Antrag trotzdem sinnvoll sein kann
Es gibt viele Situationen, in denen der Satz „Fenster putzen geht nicht mehr“ nur die sichtbare Spitze ist. Wenn jemand nicht mehr über Kopf arbeiten kann, kann das an Schulterarthrose, Herz-Kreislauf-Problemen, Atemnot oder neurologischen Einschränkungen liegen. Wenn jemand keinen Tritt mehr benutzt, kann Schwindel, Gangunsicherheit oder eine ausgeprägte Sturzangst dahinterstehen.
Wenn jemand „nicht mehr dran denkt“, kann das mit Konzentration, Orientierung oder beginnender Demenz zusammenhängen. Wenn jemand nicht mehr kraftvoll schrubben kann, kann das auf Muskelschwäche, Schmerzen oder Fatigue hindeuten.
All diese Ursachen können sich in Bereichen zeigen, die in der Pflegebegutachtung relevant sind. Häufig sind es zunächst kleine Dinge: Duschen wird unsicher, das Anziehen dauert deutlich länger, Treppen werden gemieden, Medikamente werden verwechselt, Termine werden vergessen, die Mahlzeiten werden einfacher oder fallen aus, der Tagesrhythmus entgleist.
Wer solche Veränderungen beobachtet, sollte sie nicht als „Alterserscheinungen, die man eben hinnimmt“ abtun, sondern als Hinweise, die man strukturiert dokumentieren kann.
Ein Antrag ist besonders dann erwägenswert, wenn sich Schwierigkeiten nicht nur bei einer einzelnen Haushaltstätigkeit zeigen, sondern wiederkehrend im Alltag, wenn regelmäßige Hilfe nötig wird oder wenn Sicherheit und Gesundheit ohne Unterstützung gefährdet sind. Auch wer zunächst „nur“ Pflegegrad 1 erreichen könnte, kann davon profitieren, weil damit Beratung, Hilfsmittel und Entlastung im Alltag leichter zugänglich werden.
Der Weg zum Pflegegrad: Antrag, Begutachtung, Bescheid
Der formale Start ist schlicht: Der Antrag wird bei der Pflegekasse gestellt, die bei der jeweiligen Krankenkasse angesiedelt ist. Nach dem Antrag beauftragt die Pflegekasse den Medizinischen Dienst mit der Begutachtung. Diese findet in der Regel als persönliches Gespräch statt, häufig als Hausbesuch, in bestimmten Konstellationen auch als strukturiertes Telefoninterview. Die antragstellende Person erhält einen Terminvorschlag.
Im Gespräch geht es nicht um eine Momentaufnahme im Sinn von „Heute geht es doch ganz gut“, sondern um den typischen Alltag. Gutachterinnen und Gutachter wollen verstehen, was regelmäßig schwerfällt, wo Unterstützung nötig ist und wie verlässlich Tätigkeiten noch allein gelingen. Hilfreich sind Unterlagen, die das Bild stützen: Arztberichte, Facharztbefunde, Entlassungsberichte, ein aktueller Medikamentenplan und – wenn vorhanden – Pflegedokumentation eines Pflegedienstes.
Wichtig ist dabei: Es geht nicht darum, möglichst viele Diagnosen zu präsentieren, sondern die Auswirkungen auf die Selbstständigkeit nachvollziehbar zu machen.
Nach der Begutachtung wird das Ergebnis in einem Gutachten zusammengefasst und an die Pflegekasse geschickt. Die Pflegekasse erlässt den Bescheid über Pflegegrad und Leistungen und sendet auf Wunsch auch das Gutachten zu. Von der Antragstellung bis zum Bescheid sieht der Medizinische Dienst als Regelfall eine Bearbeitungsdauer von bis zu 25 Arbeitstagen.
Infografik zum Pflegegeld 2026
Wie man sich auf den Termin vorbereitet, ohne zu dramatisieren
Viele Familien scheitern nicht am „fehlenden Bedarf“, sondern an einer unglücklichen Darstellung. Aus Höflichkeit, Scham oder Gewohnheit werden Probleme kleingeredet. Ältere Menschen möchten nicht „zur Last fallen“ und zeigen sich beim Termin oft von ihrer stärkeren Seite. Genau das kann dazu führen, dass Einschränkungen unterschätzt werden.
Sinnvoll ist eine Vorbereitung, die den Alltag so beschreibt, wie er wirklich ist. Ein Pflegetagebuch, das über einige Tage festhält, wobei Hilfe nötig ist, wann etwas nicht gelingt oder nur unter großer Anstrengung, macht aus einem diffusen Gefühl ein belastbares Bild. Dabei zählt auch, ob Tätigkeiten nur noch unter Risiko möglich wären. Wer aus Angst vor einem Sturz nicht mehr duscht, ist nicht „selbstständig“, nur weil theoretisch eine Dusche vorhanden ist. Ebenso ist jemand nicht „fähig zum Fensterputzen“, wenn es nur noch auf einer Leiter ginge, die wegen Schwindel nicht mehr sicher ist.
Hilfreich ist außerdem, dass eine vertraute Person beim Termin anwesend ist. Der Medizinische Dienst empfiehlt das ausdrücklich, weil Angehörige oder andere Nahestehende häufig ergänzen können, was Betroffene selbst vergessen oder beschönigen.
Welche Leistungen schon bei Pflegegrad 1 helfen können
Pflegegrad 1 wird oft unterschätzt, weil er noch kein Pflegegeld wie bei Pflegegrad 2 und höher auslöst. In der Praxis kann er dennoch entlasten, vor allem durch Beratung und durch zweckgebundene Unterstützung im Alltag. Dazu gehört der Entlastungsbetrag, der im Jahr 2025 bei bis zu 131 Euro monatlich liegt und für anerkannte Angebote zur Unterstützung im Alltag eingesetzt werden kann.
Gerade dort kann auch haushaltsnahe Hilfe eine Rolle spielen, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind und die Angebote entsprechend zugelassen sind.
Hinzu kommen Leistungen wie Pflegeberatung, Beratung in der eigenen Häuslichkeit, Pflegehilfsmittel zum Verbrauch und Zuschüsse für Maßnahmen, die das Wohnumfeld sicherer machen können. Das wirkt manchmal weniger spektakulär als ein „Fensterputz-Service“, kann aber die Weichen so stellen, dass Alltagssicherheit, Sturzprävention und Entlastung zusammenkommen.
Wenn der Bescheid nicht passt: Widerspruch ist kein Tabu
Pflegegrade werden nicht selten als zu niedrig empfunden, manchmal wird der Antrag auch abgelehnt. Dann lohnt ein nüchterner Blick: Hat das Gutachten die tatsächliche Alltagsrealität erfasst? Wurden Einschränkungen im Bereich Selbstversorgung, Mobilität oder Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen ausreichend berücksichtigt? Sind typische Risiken und Hilfebedarfe klar benannt worden?
Wer mit der Entscheidung nicht einverstanden ist, kann Widerspruch einlegen.
Dafür gilt nach den Informationen des Medizinischen Dienstes eine Frist von einem Monat nach Erhalt des Bescheids. Die Verbraucherzentrale weist darauf hin, dass im Widerspruchsverfahren in der Regel erneut geprüft wird und häufig ein weiteres Gutachten entsteht. Ein Widerspruch ist damit kein „Krawall“, sondern ein vorgesehenes Instrument, wenn die Einstufung aus Sicht der Betroffenen nicht stimmig ist.
Welche Unterstützung möglich ist, auch ohne Pflegegrad
Wenn tatsächlich nur der Haushalt das Problem ist und die Mutter sonst weitgehend selbstständig bleibt, ist ein Pflegegrad nicht automatisch der passendste Zugang. Dann kann Unterstützung über andere Wege sinnvoller sein. Häufig wird zunächst privat organisiert, etwa über haushaltsnahe Dienstleistungen. In vielen Fällen lässt sich das zumindest steuerlich als haushaltsnahe Dienstleistung geltend machen, was die Kosten spürbar senken kann.
Je nach gesundheitlicher Situation kommen auch befristete Hilfen in Betracht, etwa nach einem Krankenhausaufenthalt oder bei akuten Einschränkungen, wobei hier die Zuständigkeiten und Voraussetzungen zwischen Krankenversicherung, Pflegeversicherung und gegebenenfalls Sozialhilfeträgern unterschiedlich sind.
Wer unsicher ist, sollte die Pflegeberatung der Pflegekasse nutzen, denn diese Beratung steht nach Antragstellung zeitnah zu und kann helfen, die passende Leistungsschiene zu finden – auch dann, wenn am Ende kein Pflegegrad festgestellt wird.
Quellen
Medizinischer Dienst Bund: Richtlinien zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI, insbesondere zur Erhebung der Haushaltsführung und zur Einordnung von Fensterputzen als körperlich schwere Haushaltstätigkeit. Medizinischer Dienst: Informationsseite „Pflegebegutachtung“ (Standangaben 2025), unter anderem zu Punkteschwellen, Leistungsbeträgen einschließlich Entlastungsbetrag 2025 sowie zur Regeldauer bis zum Bescheid und zur Widerspruchsfrist





