Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in vollem Umfang berufstätig sein können, stehen oft vor der Frage, ob sie eine Rente wegen Erwerbsminderung, die sog. EM-Rente, erhalten. Ein häufiges Missverständnis besteht darin, dass der Grad der Behinderung (GdB) mit dem Anspruch auf diese Rente gleichgesetzt wird.
Dabei geht es jedoch nicht darum, wie hoch der GdB ist, sondern allein um den konkreten Gesundheitszustand und das Leistungsvermögen. Dieser Beitrag beleuchtet eingehend die Hintergründe und erklärt, warum der GdB rechtlich gesehen nicht ausschlaggebend für den Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung ist.
Inhaltsverzeichnis
Warum ist der Grad der Behinderung nicht automatisch ausschlaggebend?
Viele Menschen vermuten, dass ein hoher GdB sie automatisch dazu berechtigt, eine Rente wegen Erwerbsminderung zu beantragen. Die Rechtslage sieht jedoch anders aus, wie der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt betont.
Nach dem Sozialgesetzbuch VI kommt es ausschließlich auf die Frage an, ob die versicherte Person aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung weniger als sechs Stunden oder – bei voller Erwerbsminderung – weniger als drei Stunden täglich arbeiten kann. Entscheidend ist somit die tatsächliche Einschränkung im Arbeitsleben.
Ein GdB von 100 kann in bestimmten Fällen vorliegen, ohne dass die betroffene Person in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit erheblich gemindert ist. Umgekehrt kann bereits ein GdB von 50 mit komplexen psychischen Erkrankungen zu einer sehr geringen Arbeitsfähigkeit führen.
Wie definiert das Gesetz die Erwerbsminderung?
Die gesetzliche Grundlage findet sich in § 43 Absatz 2 Sozialgesetzbuch VI. Dort heißt es, dass erwerbsgemindert jene Versicherten sind, „die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens (3 oder 6 Stunden) täglich erwerbstätig zu sein“.
Damit werden zwei wesentliche Aspekte klar: Zum einen muss eine dauerhafte oder zumindest langfristige Erkrankung oder Behinderung vorliegen, zum anderen muss diese die betroffene Person tatsächlich an der Ausübung einer Beschäftigung hindern. Der Wortlaut nimmt dabei ausdrücklich Bezug auf „Krankheit oder Behinderung“, ohne einen bestimmten GdB als Voraussetzung zu nennen.
Worin unterscheiden sich GdB und Erwerbsminderung?
Während der Grad der Behinderung eine Einstufung ist, die sich auf die allgemeine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bezieht, fokussiert sich die Erwerbsminderung ausschließlich auf die Arbeitsfähigkeit.
Der GdB sagt somit aus, in welchem Ausmaß eine Person in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Für die Rente wegen Erwerbsminderung ist hingegen entscheidend, in welchem Umfang die Person noch in der Lage ist, am Arbeitsmarkt tätig zu sein. Die sozialmedizinische Begutachtung richtet sich folglich nach der Frage, ob und wie lange eine erkrankte oder behinderte Person erwerbstätig sein kann. Dass eine Beeinträchtigung vorliegt, wird zwar berücksichtigt, doch die Höhe des GdB hat darauf keine Einfluss.
Gutachten und Befundberichte sind entscheidend
“Wer einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung stellt, muss damit rechnen, dass seine Leistungsfähigkeit genau geprüft wird”, sagt der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt. “Grundlage dieser Prüfung sind aktuelle medizinische Gutachten und Befundberichte von behandelnden Ärzten.”
Diese Unterlagen dokumentieren den Gesundheitszustand der antragstellenden Person und geben Aufschluss darüber, ob die berufliche Leistungsfähigkeit in relevantem Maße eingeschränkt ist.
“Wichtig ist dabei, dass sich die medizinischen Unterlagen auf die konkrete Arbeitsleistung beziehen. Zwar kann eine vorliegende Behinderung hierfür ursächlich sein, doch der Gesetzgeber knüpft nicht an die Höhe des GdB an, sondern vielmehr an die konkrete Minderung des Leistungsvermögens”, so Anhalt.
Wieso ist die Ursache für eine Erwerbsminderung entscheidend?
Nach dem Gesetz kann sowohl eine Krankheit als auch eine Behinderung zur Erwerbsminderung führen. Wichtig ist jedoch, dass sich diese Beeinträchtigung so gravierend auf die Erwerbsfähigkeit auswirkt, dass Betroffene nicht mehr die Mindestarbeitszeit von drei oder sechs Stunden am Tag unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erbringen können.
Der GdB als reines Maß für den Grad der Teilhabebeeinträchtigung ist deshalb nur indirekt von Bedeutung. “Selbst bei einer hohen Einstufung im Schwerbehindertenausweis kann es sein, dass die Person noch ausreichend leistungsfähig ist, während jemand mit einem niedrigeren GdB aufgrund seiner individuellen Gesundheitsprobleme weit weniger belastbar ist”, sagt der Experte.
Was sollten Antragstellende beachten?
Wer eine Rente wegen Erwerbsminderung beantragt, sollte vor allem auf die Qualität und Vollständigkeit der medizinischen Unterlagen achten. Ärztliche Atteste und Befundberichte, die den konkreten Verlauf der Erkrankung oder Behinderung beschreiben, tragen maßgeblich dazu bei, dass der Rentenversicherungsträger die Situation richtig einschätzen kann.
Zugleich kann es sinnvoll sein, relevante Unterlagen zum Grad der Behinderung vorzulegen, wenn sie Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand zulassen. Entscheidend bleibt aber stets die Frage, ob und wie stark die Erwerbsfähigkeit tatsächlich eingeschränkt ist. In manchen Fällen ist es ratsam, genau zu prüfen, welche Dokumente aus dem Schwerbehindertenverfahren wirklich hilfreich sind. Nicht jede Information aus der GdB-Feststellung erweist sich im Rentenverfahren als förderlich.
Warum bleibt die Art und das Ausmaß der Behinderung das Kernkriterium?
Der Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung bemisst sich ausschließlich am Verlust der Erwerbsfähigkeit. Der GdB, der vielmehr die Teilhabe am sozialen Leben misst, kann ein Hinweis auf gesundheitliche Einschränkungen sein, ist aber weder zwingend ausschlaggebend noch eine Garantie für die Gewährung einer Rente.
Erst das Zusammenspiel aus Diagnosen, Gutachten und dem Nachweis, dass die tägliche Arbeitsfähigkeit erheblich reduziert ist, gibt den Ausschlag. Damit verdeutlicht das Sozialrecht, dass es in erster Linie auf die konkrete Leistungsfähigkeit am Arbeitsmarkt ankommt, während die Feststellung eines GdB zwar ein wichtiger Schritt zur Anerkennung einer Behinderung sein kann, jedoch kein maßgebliches Kriterium für den Bezug einer Erwerbsminderungsrente darstellt.