Jedes Jahr mรผssen nach Angaben der Bundesregierung rund 170 000 Beschรคftigte aus unterschiedlichen Grรผnden vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden und eine Rente wegen Erwerbsminderung (EM-Rente) beantragen. Was viele nicht wissen: Auch bei der EM-Rente gibt es Abschlรคge.
Ungleiche Zurechnungszeiten und dauerhafte Abschlรคge
Kritik entzรผndet sich seit Jahren vor allem an zwei Punkten. Erstens profitieren nur Neurentnerinnen und -rentner von der schrittweisen Verlรคngerung der sogenannten Zurechnungszeit โ einer fiktiven Zeit, in der so getan wird, als hรคtten Betroffene weiter Beitrรคge gezahlt.
Fรผr EM-Renten, die bereits vor den Reformen ab 2019 begonnen haben, fehlt diese Verlรคngerung. Das fรผhrt zu einer spรผrbar niedrigeren Rente, obwohl die gesundheitliche Situation identisch sein kann.
Zweitens werden โ anders als gelegentlich vermutet โ bei der EM-Rente Abschlรคge fรคllig, wenn sie vor einem bestimmten Lebensalter beginnt. Jeder Monat bringt ein Minus von 0,3 Prozent, maximal 10,8 Prozent.
Diese Kรผrzung bleibt lebenslang bestehen und geht beim รbergang in die Altersrente eins zu eins mit โ eine Doppelbelastung, die Betroffene nicht selbst gewรคhlt haben.
Altersgrenze fรผr eine abschlagsfreie EM-Rente ist gestiegen
Bis 2017 lag das abschlagsfreie Bezugsalter bei 63 Jahren. In mehreren jรคhrlichen Schritten wurde es zusammen mit der Regelaltersgrenze angehoben und erreichte 2024 sein Endziel von 65 Jahren.
Auch 2025 gilt deshalb: Erst ab dem 65. Geburtstag gibt es die EM-Rente ohne Abzug โ es sei denn, besondere Wartezeiten sind erfรผllt.
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Parallel klettert die Zurechnungszeit weiter: Wer 2024 neu in die EM-Rente ging, erhielt Entgeltpunkte bis zum Alter von 66 Jahren und einem Monat angerechnet; 2025 verlรคngert sich dieser Zeitraum um einen weiteren Monat. Die Angleichung lรคuft bis 2031 und endet dann bei 67 Jahren.
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35 oder 40 Versicherungsjahre โ der kleine, aber wichtige Unterschied
Eine Sonderregel erรถffnet jedoch einen frรผheren, abschlagsfreien Zugang: Wer beim Rentenbeginn mindestens 35 Versicherungsjahre (sogenannte Wartezeit) nachweisen konnte, durfte bis Ende 2023 schon mit 63 Jahren ohne Abschlag in die EM-Rente.
Seit 1. Januar 2024 wurde diese Schwelle auf 40 Versicherungsjahre angehoben. Damit kรถnnen langjรคhrig Versicherte die Rente weiterhin zwei Jahre frรผher beziehen โ alle anderen mรผssen die vollen 65 Jahre abwarten oder den Abschlag akzeptieren.
Weil zur Wartezeit fast alle Zeiten im Rentenrecht zรคhlen โ von Pflichtbeitragsmonaten รผber Kindererziehungszeiten bis hin zu Phasen der Arbeitslosigkeit โ erreichen viele Beschรคftigte die 40-Jahres-Marke dennoch.
Dennoch gilt: Wer aus gesundheitlichen Grรผnden schon mit 61 oder 62 Jahren auf die EM-Rente angewiesen ist, muss weiterhin mit dem vollen Abschlag leben.
Der Abschlag endet nicht bei 65
Eine besondere Hรคrte ergibt sich beim Wechsel von der EM-Rente in die Altersrente: Mit Vollendung des Regelrentenalters wird die Leistung automatisch umgewandelt, die Kรผrzung bleibt jedoch bestehen. So mindern gesundheitliche Beeintrรคchtigungen das Einkommen nicht nur in den Jahren der Erwerbsminderung, sondern oft noch ein oder zwei Jahrzehnte darรผber hinaus.
Der zweistufige Zuschlag fรผr EM-Bestandsrentner
Um zumindest einen Teil dieser Ungleichheiten auszugleichen, hat der Gesetzgeber 2022 das EM-Bestandsrentenverbesserungsgesetz verabschiedet.
Seit Juli 2024 erhalten Betroffene, deren EM-Rente zwischen 2001 und 2018 begonnen hat, einen Zuschlag von 4,5 oder 7,5 Prozent auf den damaligen Zahlbetrag.
Diese erste Stufe wird bis November 2025 getrennt von der laufenden Rente รผberwiesen. Ab Dezember 2025 folgt eine zweite Stufe, bei der der Zuschlag pauschal anhand der persรถnlichen Entgeltpunkte berechnet und zusammen mit der Rente ausgezahlt wird. Eine rรผckwirkende Verrechnung ist nicht vorgesehen.
Hinzuverdienstgrenzen werden angehoben โ eine kleine Erleichterung
Seit Januar 2025 dรผrfen Beziehende einer vollen EM-Rente jรคhrlich rund 19 661 Euro hinzuverdienen, ohne dass die Rente gekรผrzt wird; bei teilweiser Erwerbsminderung liegt die Grenze bei etwa 39 322 Euro. Damit reagiert der Gesetzgeber auf die gestiegene Inflation und die hรถhere Erwerbsbeteiligung รคlterer Menschen.
Praxisbeispiel โ Herr Bauer zwischen Erwerbsminderung und Altersrente
Herr Bauer, Jahrgang 1963, hat seit seinem 18. Lebensjahr als Industriemechaniker gearbeitet. Nach fast vier Jahrzehnten im Schichtbetrieb verschlechtert sich sein Gesundheitszustand so gravierend, dass die Deutsche Rentenversicherung im Oktober 2025 eine volle Erwerbsminderung feststellt.
Zu diesem Zeitpunkt ist er 62 Jahre und fรผnf Monate alt, seine Versicherungsbiografie umfasst 38 Pflichtbeitragsjahre sowie etliche Zeiten der Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit โ in Summe jedoch nicht die 40 Jahre, die seit 2024 fรผr einen abschlagsfreien EM-Rentenbeginn mit 63 Jahren erforderlich sind.
Zurechnungszeit und Entgeltpunkte
Bis zum Eintritt der Erwerbsminderung hat Herr Bauer 30 Entgeltpunkte erarbeitet, was in etwa einem lebenslangen Durchschnittsverdienst entspricht.
Weil seine Rente erst 2025 beginnt, wird eine Zurechnungszeit bis zum Alter von 66 Jahren und zwei Monaten fingiert; das entspricht weiteren 45 Monaten Versicherungszeit und erhรถht sein Punktekonto um rund 3,75 Entgeltpunkte. Insgesamt stehen damit 33,75 Punkte zu Buche.
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Bruttorente vor und nach dem Abschlag
Zum 1. Juli 2025 steigt der aktuelle Rentenwert bundesweit auf 40,79 Euro. Multipliziert mit 33,75 Entgeltpunkten ergibt sich fรผr Herrn Bauer eine theoretische Bruttorente von 1 376,66 Euro im Monat.
Da der EM-Rentenbeginn jedoch 31 Monate vor der maรgeblichen Altersgrenze von 65 Jahren liegt, greift der gesetzliche Abschlag von 0,3 Prozent je Monat. Das mindert die Rente um 9,3 Prozent beziehungsweise 128,03 Euro. Die ausgezahlte Bruttorente sinkt damit auf 1 248,63 Euro.
Nettoeinkommen nach Sozialabgaben
Auf die gekรผrzte Bruttorente werden die Pflichtbeitrรคge zur Kranken- und Pflegeversicherung fรคllig, seit Mรคrz 2025 zusammen 7,8 Prozent. Nach Abzug von 97,39 Euro bleiben Herrn Bauer 1 151,24 Euro netto.
Er liegt damit nur knapp รผber dem Schwellenwert fรผr Grundsicherung; ein Nebenerwerb ist aber wegen der attestierten vollen Erwerbsminderung nicht mรถglich.
Dauerhafte Wirkung des Abschlags
Der Abschlag begleitet Herrn Bauer lebenslang. Er verschwindet weder mit kรผnftigen Rentenanpassungen noch beim automatischen Wechsel in die Regelaltersrente mit 67 Jahren, sondern wird lediglich prozentual auf die dann gestiegene Bruttorente angewandt. Selbst wenn Punktwert und Zuschlรคge in den kommenden Jahren wachsen, bleibt sein individueller Abzug von 9,3 Prozent bestehen.
Fazit
Wer heute in jungen Jahren berufsunfรคhig wird, profitiert von lรคngeren Zurechnungszeiten und โ bei ausreichender Wartezeit โ der Option, schon mit 63 Jahren ohne Abschlag in die Rente zu gehen.
Fรผr viele Bestandsrentner bleiben jedoch harte Einschnitte: Ein Abschlag von bis zu 10,8 Prozent begleitet sie bis an ihr Lebensende. Der zweistufige Zuschlag ab 2024 lindert die Ungleichheit, beseitigt sie aber nicht.