Die Wohnkosten steigen, der Regelsatz deckt vielerorts nur noch das Nötigste – und plötzlich ist von „Zwangsumzügen“ beim Bürgergeld die Rede. Mehrere Medien sprechen von zu drastischen Einschnitten für Bürgergeld-Bezieher ab 2027.
Dahinter verbirgt sich jedoch keine neue gesetzliche Pflicht zum Umzug, sondern eine Diskussion über Deckel, Pauschalen und ein strengeres Vorgehen bei überhöhten Mieten.
Inhaltsverzeichnis
Auftakt: Das ARD-Sommerinterview
Den Impuls lieferte das ARD-Sommerinterview mit Bundeskanzler Friedrich Merz Mitte Juli. Merz stellte eine Deckelung der Kosten der Unterkunft, eine Prüfung der Wohnungsgrößen sowie die Einführung pauschaler Leistungen in Aussicht – mit dem Verweis, in einigen Großstadtregionen würden sehr hohe Quadratmeterpreise übernommen.
Die Aussagen stießen auf breite Resonanz, zugleich folgten Faktenchecks und Einordnungen, unter anderem durch das Rechercheteam von Correctiv. Der politische Ton ist damit gesetzt: Es geht nicht eine Ausweitung, sondern eine Begrenzung von KdU-Ausgaben.
Was der Koalitionsvertrag vorsieht
Konkreter als das Interview ist der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. Er kündigt an, das bisherige Bürgergeld zu einer „neuen Grundsicherung“ umzubauen.
Für die Wohnkosten enthält er zwei Weichenstellungen: Dort, wo unverhältnismäßig hohe Kosten für Unterkunft anfallen, soll die bisherige Karenzzeit entfallen. Zudem ist eine Sozialstaatskommission vorgesehen, die ausdrücklich die Möglichkeit von Pauschalen prüfen soll.
Ein Automatismus zu bundesweit einheitlichen Mietpauschalen findet sich nicht, wohl aber der Auftrag, darüber zu beraten und Modelle zu entwickeln.
Stand der Gesetzgebung: Angekündigt ist viel, beschlossen wenig
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung liegt kein Referenten- oder Regierungsentwurf des Bundesarbeitsministeriums öffentlich vor, der die Grundsicherung umfassend neu ordnet.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat für den Herbst 2025 eine große Reform angekündigt, die „an die Substanz“ gehen soll – inklusive Umbenennung des Bürgergelds in „Neue Grundsicherung“ und weitreichender Detailänderungen.
Ein offiziell bestätigter Gesamtfahrplan der Ministerien ist nicht veröffentlicht. Realistisch ist, dass Änderungen erst ab 2027 greifen.
Konkrete Bewegung: Rechtskreiswechsel für neu einreisende Ukrainer
Am weitesten fortgeschritten ist nach bisherigem Stand der Referentenentwurf zum Rechtskreiswechsel für neu einreisende Ukrainerinnen und Ukrainer: Demnächst sollen sie nicht mehr Bürgergeld, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten.
Damit würde erstmals ein Punkt aus dem Koalitionsvertrag im Kontext Bürgergeld tatsächlich umgesetzt. Ein darüber hinausgehender, kohärenter Gesetzentwurf zur Gesamtreform liegt öffentlich nicht vor.
Rechtslage heute: Kostensenkung statt Zwang
Rechtsgrundlage für die Kosten der Unterkunft ist § 22 SGB II. Grundsätzlich übernimmt das Jobcenter die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, soweit sie „angemessen“ sind.
Beim erstmaligen Leistungsbezug gilt eine Karenzzeit von zwölf Monaten, in der die Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe anerkannt werden; Heizkosten sind hiervon ausgenommen und nur in angemessener Höhe berücksichtigungsfähig.
Nach Ablauf der Karenzzeit prüft das Jobcenter die Angemessenheit der Miete. Liegen die Kosten darüber, muss zunächst eine Kostensenkungsaufforderung ergehen, die die lokale Obergrenze konkret benennt.
Daran schließt sich regelmäßig eine Frist von sechs Monaten an, während der die höheren Kosten weiter anerkannt werden, wenn eine Senkung nicht möglich oder unzumutbar ist.
Erst nach Ablauf dieser Frist – und nur dann, wenn keine Senkung gelingt und Bemühungen nicht belegt werden – wird auf die als angemessen festgelegten Kosten abgesenkt.
Diese sechs Monate kommen zusätzlich zur Karenzzeit. Unterbleibt eine Kürzung, wenn sie insgesamt unwirtschaftlich wäre, etwa weil ein Umzug höhere Gesamtkosten verursachen würde.
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Bescheid prüfenAngemessenheit braucht Methode: „Schlüssiges Konzept“ und Wohngeld-Stufen
Entscheidend ist, wie die Angemessenheit bestimmt wird. Dafür braucht der zuständige Träger ein schlüssiges Konzept: eine nachvollziehbare, methodisch tragfähige Datengrundlage mit korrekt abgegrenztem Vergleichsraum und aktuellen Mietdaten.
Fehlt ein solches Konzept oder ist es fehlerhaft, dürfen Leistungen nicht pauschal gekürzt werden. In der Praxis orientieren sich Gerichte dann häufig an den Mietstufen des Wohngeldgesetzes als Obergrenze, teils mit einem moderaten Aufschlag von etwa zehn Prozent, um Marktrealitäten abzubilden.
Das ist jedoch keine starre Regel. Je nach Lage kann übergangsweise auch die tatsächliche Miete maßgeblich bleiben, bis eine plausible Obergrenze definiert ist.
Schutzmechanismen und Härtefälle
Das System kennt Ausnahmen. Nach dem Tod eines Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft gilt eine Kostensenkung für die verbleibende Person mindestens zwölf Monate als unzumutbar. Auch in anderen Härtefällen kann die Sechs-Monats-Frist verlängert werden, insbesondere wenn angemessener Wohnraum am Markt faktisch nicht verfügbar ist.
Für Heizkosten gilt: Auch hier ist grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren erforderlich; bloße Hinweise auf Richtwertüberschreitungen genügen nicht, um ohne Aufforderung zu kürzen.
Die Zahlenlage: Eine Lücke, die schon heute schmerzt
Bereits ohne Reform zahlen Jobcenter einem erheblichen Teil der Bedarfsgemeinschaften nicht die volle Warmmiete. Die Auswertung der von der Bundesagentur für Arbeit bereitgestellten Daten zeigt eine wachsende Wohnkostenlücke: 2024 beträgt die durchschnittliche Unterdeckung 116,17 Euro pro Monat.
Alleinstehende erhalten im Schnitt 96,99 Euro weniger als die tatsächlichen Unterkunftskosten, Bedarfsgemeinschaften mit Kindern fehlen 141,60 Euro, Alleinerziehenden 130,40 Euro. Seit 2021 ist die Lücke in allen Gruppen gewachsen – im Durchschnitt um 25,38 Euro, bei Bedarfsgemeinschaften mit Kindern um 35,26 Euro.
Diese Differenzen müssen aus dem Regelsatz oder anderen Einkünften getragen werden, was den Druck im Alltag spürbar erhöht.
Was Betroffene jetzt tun können
Wer nach Ablauf des Kostensenkungsverfahrens mit einer Kürzung konfrontiert ist, sollte die rechtliche und tatsächliche Grundlage prüfen. Maßgeblich ist, ob das Jobcenter ein schlüssiges Konzept anwendet und die örtlichen Obergrenzen korrekt hergeleitet sind.
Sinnvoll ist es, die eigene Wohnungssuche kontinuierlich zu dokumentieren, Angebote zu sammeln und zu belegen, wenn am Markt kein angemessener Wohnraum verfügbar ist.
Persönliche Gründe gegen einen Umzug – etwa gesundheitliche
Einschränkungen, die Bindung an Schulen und Betreuung oder fehlende Alternativen – sollten nachvollziehbar dargestellt werden. Rechtlich eröffnet sich der Weg über Widerspruch und einstweiligen Rechtsschutz erst mit dem Bescheid, der die Kürzung tatsächlich vornimmt; gegen die bloße Kostensenkungsaufforderung ist kein Widerspruch möglich.
Vor jedem Umzug empfiehlt sich die vorherige Zusicherung des Jobcenters zu künftigen Mietkosten, Umzugskosten und Kaution, um spätere Konflikte zu vermeiden.
Zwangsumzüge passieren schon heute
Der Begriff „Zwangsumzug“ greift rechtlich zu kurz. Jobcenter können niemanden direkt zum Umzug verpflichten. Sie dürfen nach Ablauf der Karenz- und Übergangsfristen die Leistungen für Unterkunft und Heizung auf die als angemessen festgelegten Beträge begrenzen. Wie die Kostensenkung erreicht wird, liegt bei den Leistungsberechtigten selbst – durch Umzug, Untervermietung, Verhandlungen mit der Vermieterseite oder andere Maßnahmen.
Gelingt eine Senkung trotz nachweislicher Bemühungen nicht, weil der Markt keine passenden Wohnungen bereithält oder ein Umzug unzumutbar wäre, sind die tatsächlichen Aufwendungen vorübergehend weiter anzuerkennen.
Bleiben Bemühungen aus oder werden sie nicht belegt, reduziert das Jobcenter die KdU auf die Angemessenheitsgrenze, und die Differenz ist aus dem Regelsatz zu tragen.
Politisch könnte eine künftige Pauschalierung oder das Ende der Karenzzeit bei sehr hohen Mieten den indirekten Umzugsdruck erhöhen – eine neue, unmittelbare Zwangsmaßnahme ist daraus jedoch nicht abzuleiten.
Reformdruck trifft Realitäten des Wohnungsmarkts
Die Debatte um Deckel, Pauschalen und strengere Regeln bei überhöhten Mieten trifft auf eine angespannte Wohnungsmarkt-Realität. Selbst klug austarierte Vorgaben zur Angemessenheit entfalten nur dann ihre intendierte Steuerungswirkung, wenn es genügend bezahlbaren Wohnraum gibt. Bis konkrete Gesetzentwürfe vorliegen, bleibt entscheidend, die geltenden Schutzmechanismen zu kennen, Ansprüche sauber zu dokumentieren und Einzelfälle rechtlich prüfen zu lassen.
Die politische Richtung deutet auf Begrenzungselemente hin; ob daraus tatsächlich weniger Willkür und mehr Transparenz entstehen – oder vor allem zusätzlicher Druck auf Betroffene –, wird sich erst zeigen, wenn die angekündigten Reformen konkret werden.