Wer Bürgergeld bezieht, erhält die Kosten der Unterkunft und Heizung grundsätzlich nur in angemessener Höhe. Für die Übernahme von Mietschulden gilt jedoch ein anderer Prüfmaßstab: Relevanz hat vor allem, ob die Wohnung gesichert werden kann und Wohnungslosigkeit droht.
Das Landessozialgericht (LSG) Mecklenburg-Vorpommern hat diesen Grundsatz in einem aktuellen Eilverfahren vom 22. Juli 2025 geschärft. Danach muss das Jobcenter Mietrückstände selbst dann vorläufig übernehmen, wenn die laufende Miete oberhalb der kommunal festgelegten Angemessenheitsgrenzen liegt – jedenfalls während der Karenzzeit des Bürgergeldes. Maßgeblich war § 22 Abs. 8 SGB II, der eine Schuldenübernahme zur Sicherung der Unterkunft vorsieht.
Inhaltsverzeichnis
Der Fall: Rückstände vor dem Bürgergeld, Antrag in der Karenzzeit
Auslöser war der Eilantrag einer Leistungsberechtigten, die nach knapp einem Jahr Arbeitslosengeld I im Mai 2025 ins Bürgergeld gerutscht war. In der Zwischenzeit hatten sich Mietrückstände aufgebaut. Das Jobcenter lehnte die Übernahme ab und verwies zum einen auf die Entstehung der Schulden vor Beginn des Bürgergeldbezugs, zum anderen auf die Unangemessenheit der laufenden Unterkunftskosten.
Nachdem der Vermieter fristlos gekündigt und eine Räumungsklage in Aussicht gestellt hatte, wandte sich die Betroffene an das LSG. Die Richterinnen und Richter verpflichteten das Jobcenter im Wege der einstweiligen Anordnung zur darlehensweisen Übernahme der Mietschulden.
Sie hielten fest, dass es auf den Zeitpunkt der Antragstellung ankommt und dass die laufenden Leistungen in der Karenzzeit ohne Angemessenheitsprüfung zu erbringen sind; daran kann sich die Behörde im Rahmen der Schuldenübernahme nicht „vorbeiargumentieren“.
Rechtslage: § 22 Abs. 8 SGB II und die Karenzzeit im Bürgergeld
§ 22 Abs. 8 SGB II ermöglicht die Übernahme von Schulden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft gerechtfertigt ist; bei drohender Wohnungslosigkeit „sollen“ sie übernommen werden.
Die Leistung erfolgt regelmäßig als Darlehen. Parallel gilt seit Einführung des Bürgergeldes eine zwölfmonatige Karenzzeit: In diesem ersten Jahr anerkennt das Jobcenter die tatsächlichen Unterkunftskosten, ohne Angemessenheitsprüfung und ohne Kostensenkungsaufforderung. Dies ändert die Ausgangslage für die Schuldenübernahme spürbar, weil während der Karenzzeit die Unangemessenheit der Miete gerade kein tauglicher Ablehnungsgrund ist.
Und so urteilte das Gericht
Das LSG Mecklenburg-Vorpommern betont zunächst die existenzsichernde Funktion der Unterkunft. Droht aufgrund ernsthafter Kündigung und angekündigter Räumung Wohnungslosigkeit, reduziert sich das behördliche Ermessen regelmäßig auf Null; die Schulden sind zur Sicherung der Wohnung zu übernehmen.
Unerheblich ist, dass die Rückstände vor dem Bürgergeldbezug entstanden sind, solange die antragstellende Person zum Zeitpunkt der Entscheidung im Leistungsbezug steht. Überdies darf sich das Jobcenter in der laufenden Karenzzeit nicht auf die Unangemessenheit der Unterkunftskosten berufen.
Diese Linie fügt sich in die ober- und höchstrichterliche Rechtsprechung ein, die die Sicherung der Wohnung im Zweifel voranstellt; bereits zuvor hatten andere Landessozialgerichte in vergleichbaren Konstellationen entschieden, dass die drohende Wohnungslosigkeit und die laufende Karenzzeit eine Schuldenübernahme gebieten können.
Der Haken: Es gibt das Geld nur als Darlehen – und es wird aufgerechnet
So empfängerfreundlich die Entscheidung wirkt, sie kommt mit einem spürbaren Haken: Mietschulden werden im SGB II regelmäßig nicht als Zuschuss, sondern als Darlehen übernommen.
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Bescheid prüfenDie Rückzahlung erfolgt durch monatliche Aufrechnung mit dem Regelbedarf. Seit 1. Juli 2023 beträgt die Tilgungsquote nach § 42a SGB II in der Regel fünf Prozent des maßgebenden Regelbedarfs; bei mehreren gleichzeitigen Aufrechnungen greift eine gesetzliche Obergrenze. Für Betroffene bedeutet das: Die Unterkunft bleibt gesichert, der verfügbare Regelsatz sinkt jedoch für die Dauer der Tilgung.
Offene Fragen
Der Beschluss erging im einstweiligen Rechtsschutz und bindet zunächst die Beteiligten in der konkreten Situation. Im Hauptsacheverfahren könnte die Entscheidung theoretisch anders ausfallen; die Hürden hierfür sind allerdings hoch, wenn die Wohnung in der Zwischenzeit durch die Zahlung gesichert wurde.
Mit Ablauf der Karenzzeit verschiebt sich zudem die Rechtslage: Dann kann das Jobcenter eine Kostensenkung verlangen und die laufenden Unterkunftskosten auf das angemessene Maß begrenzen. Für bereits entstandene Mietrückstände bleibt § 22 Abs. 8 SGB II anwendbar, doch gewinnt die Frage der „Sicherung der Unterkunft“ an Gewicht, und Unangemessenheit kann wieder ein Argument sein – es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, die im Einzelfall dennoch eine Übernahme rechtfertigen.
Die Entscheidung des LSG Mecklenburg-Vorpommern macht deutlich, dass die Karenzzeit eine Art Schutzschirm bildet, der nicht durch den Verweis auf Unangemessenheit perforiert werden darf.
Praktische Konsequenzen für Betroffene
Wer Bürgergeld erhält und mit Mietrückständen konfrontiert ist, sollte unverzüglich das Jobcenter informieren und gegebenenfalls gerichtlichen Eilrechtsschutz in Betracht ziehen, sobald eine Kündigung droht oder bereits ausgesprochen wurde.
Während der Karenzzeit stehen die Chancen gut, dass das Jobcenter die Rückstände darlehensweise ausgleicht – auch bei formal „unangemessener“ Miete. Zugleich ist es wichtig, die finanziellen Folgen der Darlehensaufrechnung realistisch einzuplanen und frühzeitig zu prüfen, ob nach der Karenzzeit eine Anpassung der Wohnkosten erforderlich wird. Das Ziel bleibt die stabile Sicherung der Unterkunft ohne erneute Schuldenfalle.
Fazit
Das LSG Mecklenburg-Vorpommern stärkt mit seinem Beschluss vom 22. Juli 2025 die Wohnsicherung im Bürgergeld. Die Richterinnen und Richter stellen klar, dass die Karenzzeit nicht nur die laufende Kostenübernahme schützt, sondern auch die darlehensweise Tilgung von Mietschulden begünstigt, wenn Wohnungslosigkeit droht.
Für Jobcenter entfällt damit während der Karenzzeit der Rückzug auf das Argument der Unangemessenheit. Für Leistungsberechtigte bleibt zugleich die Pflicht, das Darlehen zurückzuzahlen und perspektivisch auf tragfähige Wohnkosten hinzuarbeiten.
In der Summe ist es ein deutlicher Akzent zugunsten des Bestandsschutzes der Wohnung – mit realen, aber kalkulierbaren finanziellen Folgen.
Quellenhinweise: LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 22.07.2025 – L 10 AS 77/25 B ER; dazu Berichte und Leitsätze u. a. bei Tacheles. Zur Karenzzeit und Systematik der KdU vgl. amtliche Arbeitshilfen. Zur Darlehensrückzahlung siehe § 42a SGB II und die fachlichen Weisungen der BA.