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Jobcenter dürfen Mitwirkungspflicht nicht überspannen
Der Schutz persönlicher Daten gegenüber der vom Jobcenter verlangten Mitwirkungspflicht ist eine heikle Angelegenheit, weil die Behörden dazu neigen, Leistungen zu versagen, wenn Bürgergeldbezieher sensible Daten nicht freigeben.
Ein solcher Fall ging durch alle Instanzen der Sozialgerichte, bis schließlich das Bundessozialgericht zugunsten der Bürgergeld-Bezieherin entschied. (B 14 AS 13/19 R)
Welchem Leitsatz folgte das Gericht?
Das Bundessozialgericht stellte klar, dass Mitwirkungsobliegenheit von seiten der Bürgergeld-Bezieherin gilt gegenüber der Rentenversicherung in Bezug auf die gutachterliche Stellungsnahme zur Erwerbsfähigkeit.
Worum ging es?
Das Jobcenter versagte der Betroffenen Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II von Februar bis Juli 2014 und bergründete dies mit ihrem fehlenden Mitwirken hinsichtlich ihrer Erwerbsfähigkeit.
Seit 2005 erhielt die Betroffene Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II. 2010 hatte der Ärztliche Dienst der Agentur für Arbeit festgestellt, dass sie nicht voll erwerbsfähig ist. Ein Ernährungsproblem und eine psychische Problematik wurden festgestellt.
Das hätte bedeutet, dass die Frau statt Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II Sozialhilfe bekommen hätte, da Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II an die grundsätzliche Erwerbsfähigkeit gekoppelt sind.
Der Sozialhilfeträger legte Widerspruch ein, und die Deutsche Rentenversicherung wurde um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten. Ob eine Erwerbsminderung besteht, liegt in der Zuständigkeit der Rentenversicherung.
Die Rentenversicherung sah die vollständige Vorlage des Gutachten des Ärztlichen Dienstes als notwendig an. Die Betroffene schickte hingegen ein Attest ihres Hausarztes und Dokumente eines Universitätsklinikums.
Sie lehnte es ab, das vollständige Gutachten des Ärztlichen Dienstes beizulegen. Dieses sei, ihr zufolge, erstens falsch und zweitens ohne ihr Wissen erstellt worden.
Das Jobcenter wies sie mehrfach auf die Konsequenzen fehlender Mitwirkung hin und forderte sie wiederholt auf, in die Übermittlung des vollständigen Gutachtens einzuwilligen. Es setzte eine Frist, und als diese abgelaufen war, strich die Behörde der Betroffenen sämtliche Leistungen.
Die Gerichte weisen die Klage zurück
Die Betroffene klagte erfolglos. Zuerst wies das Sozialgericht die Klage zurück, und dann ebenso das Landessozialgericht. Beide hielten es für gerechtfertigt, die Leistungen zu versagen, denn die Klägerin sei der Aufforderung nicht nachgekommen, die erforderlichen Dokumente einzureichen.
Das Landessozialgericht ließ eine Revision zu – zum Glück für die Betroffene.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Vor dem Bundessozialgericht berief sie sich auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Sie betonte, das Gutachten des Ärzlichen Dienstes basiere auf Befundberichten, die ohne ihre Zustimmung aufgrund von Schweigepflichtentbindungserklärungen ihres damaligen Betreuers eingesehen wurden.
Er habe diese Entbindung von der Schweigepflicht nicht abegeben können, damit sei das Gutachten nicht verwertbar, und es gebe weder eine Grundlage für eine Mitwirkung noch ein Versagen von Leistungen.
Das Bundessozialgericht stimmte zu, dass es keine Grundlage gegeben hätte, die Leistungen zu versagen.
“Keine erhebliche Erschwerung des Sachverhalts”
Es hätte durch das Nichtmitwirken der Klägerin keine “erhebliche Erschwerung der Aufklärung des Sachverhaltes” gegeben.
Mitwirkungsobliegenheiten nicht zu erfüllen rechtfertige allein kein Versagen von Mitteln, sondern vielmehr müsse die Aufklärung des Sachverhaltes dadurch erheblich erschwert sein, und zudem kausal nachweisbar.
Ohne diese erhebliche Erschwerung der Aufklärung bliebe eine Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit ohne Konsequenzen.
Die vollständige Vorlage war nicht nötig
Bei der Feststellung der Erwerbsfähigkeit durch die Agentur für Arbeit ebenso wie bei der gutachterlichen Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers handle es sich um Vorfragen.
Zur Einwilligung in die Beiziehung ärztlicher Grundlagen dürften Hilfebedürftige nur aufgefordert werden, falls Zweifel an der Erwerbsfähigkeit nicht anders auszuräumen seien.
Zudem dürften Leistungen wegen fehlender Mitwirkung nicht versagt werden, wenn nicht auszuschließen sei, dass die Mitwirkung wegen Krankheit unmöglich ist. Doch das Gutachten des Ärztlichen Dienstes notiere ausdrücklich “psychische Problematiken”.
Es spiele keine Rolle für die Mitwirkung der hilfebedürftigen Person, ob die Rentenversicherung eine Unterlage als notwendig ansehe – wenn die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.
Der Ablauf des Verfahrens zeigt keine Notwendigkeit
Das Bundessozialgericht erörterte außerdem, dass der Ablauf des Verfahrens zeige, dass für das Feststellen der Erwerbsfähigkeit das angefragte vollständige Gutachten nicht nötig gewesen sein.
So seien in dem Procedere zwischen Agentur für Arbeit und Rentenversicherung mehrere Jahre vergangen. Damit hätte das entsprechende Gutachten garnicht von erheblicher Bedeutung für die Klärung des Sachverhaltes sein können.
Wörtlich heißt es: “Unterlagen, die wie vorliegend über zwei oder gar drei Jahre alt sind, sind in der Regel für die Beurteilung der aktuellen Erwerbsfähigkeit ohne Bedeutung. Von daher erschließt es sich nicht, wieso für die Entscheidung über die Erwerbsfähigkeit der Klägerin (…) das Gutachten des Ärztlichen Dienstes (…) überhaupt (noch) von derartigem Gewicht war.”
Denn ein Gutachten zur Erwerbsfähigkeit müsste zeitnah erfolgen.
Die Sachlage ist klar
Zudem sei die Sachlage auch ohne dieses vollständige Gutachten klar gewesen. Der vorhandene Teil B verneine ein ausreichendes Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und diese Einschränkung sei dauerhaft. Das Leistungsvermögen liege dauerhaft unter drei Stunden täglich, eine Ernährungsproblematik hätte mehrfach zu lebensbedrohlichen Situationen geführt, und es sei von einer psychischen Problematik auszugehen.
Die Vorlage des vollständigen Gutachtens des Ärztlichen Dienstes sei zwar wünschenswert, aber keinesfalls streitentscheidend.
Zahlreiche Alternativen
Es hätte zahlreiche Alternativen gegeben, so das Bundessozialgericht, die entscheidende Frage nach der Erwerbsfähigkeit durch andere Beweiserhebungen zu klären, besonders durch eine gutachterliche Untersuchung der Klägerin.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.