Die Frage kommt häufig in der Beratungspraxis: Was passiert, wenn die eigene Gesundheit nicht mehr mitspielt, der erlernte Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann und die Existenz auf dem Spiel steht? Viele Versicherte hoffen dann auf eine gesetzliche Rente – etwa eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Doch für Millionen Menschen, die nach dem 1. Januar 1961 geboren wurden, gilt eine entscheidende Änderung: Der frühere Berufsschutz ist entfallen. Dieser Beitrag ordnet die Rechtslage ein, erklärt die Folgen für Anträge und Verfahren und zeigt auf, worauf Betroffene heute achten müssen.
Der frühere Berufsschutz und seine historische Grenze
Bis zu den Geburtsjahrgängen vor dem 2. Januar 1961 – also bis einschließlich 1. Januar 1961 – gab es eine Sonderregelung des § 240 SGB VI: die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
In diesem spielte der zuletzt ausgeübte oder erlernte Beruf eine maßgebliche Rolle. Die Rentenversicherung prüfte, ob dieser Beruf aufgrund von Krankheit oder Behinderung noch zumutbar war. War er es nicht, konnten bereits hier Ansprüche entstehen.
Diese Sonderregel greift für nach dem 1. Januar 1961 Geborene nicht mehr. Für diese Versichertengruppe ist der klassische Berufsschutz „gesetzlich durch“ – er findet schlicht keine Anwendung mehr.
Praktisch bedeutet das: Die Rentenversicherung betrachtet nicht mehr den erlernten oder zuletzt ausgeübten Beruf, sondern richtet den Blick auf etwas anderes.
Der heutige Maßstab: § 43 SGB VI und die „abstrakte Leistungsfähigkeit“
Für alle nach dem 1. Januar 1961 Geborenen gilt ausschließlich § 43 SGB VI. Dreh- und Angelpunkt ist dabei nicht die Berufsgeschichte, sondern die abstrakte Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Entscheidend ist, wie viele Stunden täglich – unter den üblichen Bedingungen des Arbeitslebens – noch gearbeitet werden kann.
Voll erwerbsgemindert ist, wer unter drei Stunden pro Werktag arbeiten kann. Teilweise erwerbsgemindert ist, wer noch drei bis unter sechs Stunden täglich arbeitsfähig ist.
Als Werktag wird hierbei die Fünf-Tage-Woche zugrunde gelegt. Dieser Stundenmaßstab abstrahiert bewusst von konkreten Arbeitsplätzen, Arbeitgebern oder Qualifikationsprofilen; er fragt nach dem leistungsmedizinischen Restvermögen in einem normativen, allgemeinen Arbeitsmarkt.
Diese Verschiebung des Fokus ist tiefgreifend. Qualifikation, bisherige Tätigkeit und bisheriges Lohnniveau spielen für den Anspruch dem Grunde nach keine Rolle mehr.
Wer etwa als spezialisierte Fachkraft gesundheitlich nicht mehr in seinen Beruf zurückkehren kann, erhält nicht automatisch eine Rente, wenn er anderen, leichteren Tätigkeiten in ausreichendem Umfang noch nachgehen könnte.
Der Sonderfall „Arbeitsmarktrente“: Voller Zahlbetrag trotz teilweiser Erwerbsminderung
Ein besonderer, in der Praxis bedeutsamer Ausnahmefall ist die sogenannte Arbeitsmarktrente. Sie greift, wenn eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt – das heißt ein Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden –, aber kein geeigneter Teilzeit-Arbeitsplatz zur Verfügung steht.
Dann wird eine volle Erwerbsminderungsrente gezahlt, obwohl die medizinische Seite nur eine teilweise Erwerbsminderung ergibt.
Hinter dieser Konstellation steht die Anerkenntnis, dass der allgemeine Arbeitsmarkt faktisch weitgehend auf Vollzeit ausgerichtet ist und sich geeignete Teilzeitbeschäftigungen für gesundheitlich eingeschränkte Versicherte häufig nicht real zugänglich darstellen.
Die volle Leistung wird hier befristet gewährt. Eine Entfristung sieht das Gesetz für diesen Typus nicht vor. Kommt zu einem späteren Zeitpunkt doch ein geeigneter Teilzeitplatz in Betracht – etwa weil der Arbeitgeber eine entsprechende Stelle schafft oder die Arbeitsverwaltung eine passende Beschäftigung vermittelt –, endet die Arbeitsmarktrente und es bleibt bei der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, sofern deren Voraussetzungen weiterhin erfüllt sind.
Medizinische Voraussetzungen: Krankheit, Behinderung und belastbares Leistungsbild
Am Anfang jeder Prüfung steht der medizinische Befund. Maßgeblich ist, ob Krankheit oder Behinderung die stundenmäßige Leistungsfähigkeit unter die genannten Schwellen drücken.
Nicht einzelne Diagnosen sind entscheidend, sondern deren funktionale Folgen für Belastbarkeit, Konzentration, Belastungswechsel, Wegefähigkeit und Durchhaltevermögen im üblichen Arbeitsrhythmus.
Ein schlüssiges, konsistentes Leistungsbild entsteht in der Regel durch aktuelle Arztberichte, Befund- und Entlassungsberichte aus Kliniken, Reha-Einrichtungen sowie durch die nachvollziehbare Beschreibung des Alltags durch die Betroffenen selbst. Eine frühzeitige, offene Kommunikation mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten ist dafür essenziell.
Versicherungsrechtliche Voraussetzungen: Wartezeit und „3/5-Belegung“
Neben der medizinischen Seite müssen die versicherungsrechtlichen Hürden genommen werden. Zentral sind zwei Kriterien. Erstens die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren, also 60 Kalendermonaten mit rentenrechtlichen Zeiten. Zweitens die sogenannte „3/5-Belegung“:
In den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung müssen mindestens 36 Monate Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit liegen.
Diese Voraussetzungen werden im Rahmen der Kontenklärung von der Rentenversicherung geprüft; Lücken, strittige Zeiten oder unklare Tatbestände sollten vor Antragstellung bereinigt werden, um Verzögerungen zu vermeiden.
Reha vor Rente: Der Vorrang des Rehabilitationserfolgs
Im gesetzlichen Rentenrecht gilt unverändert der Grundsatz „Reha vor Rente“. Erst wenn medizinische oder berufliche Rehabilitationsmaßnahmen voraussichtlich keine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit bringen, wird der Rentenanspruch dem Grunde nach eröffnet.
In der Praxis bedeutet das, dass die Rentenversicherung häufig zunächst eine medizinische Reha veranlasst, um die aktuelle Leistungsfähigkeit objektiv feststellen zu lassen und Behandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen.
Erst auf dieser Basis fällt dann die Entscheidung über eine Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung oder – im Sonderfall – über die Arbeitsmarktrente.
Antragspraxis: Gründliche Vorbereitung ist die halbe Miete
Wer nach dem 1. Januar 1961 geboren ist und einen EM-Rentenantrag stellen will, sollte besonders sorgfältig vorgehen. Im Zentrum steht ein klares, plausibles Leistungsbild: Welche Tätigkeiten gelingen noch, wie lange, mit welchen Pausen, unter welchen Rahmenbedingungen?
Welche Tätigkeiten sind nicht mehr möglich und aus welchen konkreten gesundheitlichen Gründen? Ein chronologisch geordneter Befundspiegel mit aktuellen Arztbriefen erleichtert die Prüfung erheblich.
Gespräche mit Haus- und Fachärzten helfen einzuschätzen, ob realistisch sechs Stunden und mehr, drei bis unter sechs oder unter drei Stunden täglich möglich sind.
Parallel dazu gehört die Klärung des Versicherungskontos auf die Agenda. Fehlende Zeiten, strittige Meldezeiträume oder unklare Statusfragen sollten dokumentiert und, wenn nötig, mit Belegen hinterlegt werden.
Dringlich wird es, wenn Fristen im Raum stehen – etwa bei der Aussteuerung aus dem Krankengeld oder beim nahenden Ende des Arbeitslosengeldes.
In solchen Konstellationen spielt zudem die sogenannte Nahtlosigkeitsregelung der Arbeitsförderung eine Rolle, die unter bestimmten Voraussetzungen den Leistungsbezug absichert, solange die Erwerbsfähigkeit unklar ist. Eine frühzeitige, geordnete Antragstellung verhindert Lücken und unnötige Rückfragen.
Psychische Erkrankungen: Besondere Sorgfalt bei der Darlegung
Gerade bei psychischen Erkrankungen ist die Darstellung der funktionalen Einschränkungen anspruchsvoll. Schwankende Tagesformen, Belastungsspitzen, Konzentrations- und Anpassungsstörungen lassen sich nicht so leicht „messen“ wie körperliche Einschränkungen.
Umso wichtiger sind konsistente ärztliche Einschätzungen, strukturierte Tagesprotokolle und eine Beschreibung der tatsächlichen Alltagsbewältigung. Wer hier unsicher ist, sollte frühzeitig fachkundigen Rat suchen, um das eigene Leistungsbild lebensnah und prüffest abzubilden.
Fazit: Neue Spielregeln, klare Maßstäbe – und viel hängt an der Vorbereitung
Der Wegfall des Berufsschutzes für nach dem 1. Januar 1961 Geborene hat das System der Erwerbsminderungsrenten nachhaltig verändert. Statt des bisherigen, berufszentrierten Blicks steht heute die abstrakte Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Mittelpunkt. Wer unter drei Stunden täglich arbeiten kann, ist voll erwerbsgemindert.
Wer drei bis unter sechs Stunden schafft, ist teilweise erwerbsgemindert – mit der wichtigen Ausnahme, dass bei fehlender Teilzeitbeschäftigungsmöglichkeit die Arbeitsmarktrente als volle Rente auf Zeit gezahlt werden kann. Unverändert gilt: Reha vor Rente. Und ohne die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen – fünf Jahre Wartezeit und 36 Monate Pflichtbeiträge in den letzten fünf Jahren – geht es nicht.
Für Betroffene heißt das vor allem: gründlich vorbereiten, medizinische Unterlagen systematisch sammeln, das eigene Leistungsbild realistisch beschreiben, das Versicherungskonto klären und Fristen im Blick behalten. Wer zweifelt, sollte fachkundigen Rat einholen.
Denn am Ende entscheidet nicht ein wohlklingender Titel im Lebenslauf, sondern die belastbare Darstellung dessen, was gesundheitlich noch geht – und was nicht mehr.




