Bürgergeld: Stellungnahme warnt vor fatalen Folgen der Neuen Grundsicherung

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Der Gesetzentwurf für das 13. SGB-II-Änderungsgesetz sorgt schon im frühen Stadium des Verfahrens für heftige Kritik. Mit ihm soll das derzeitige Bürgergeld in eine „Neue Grundsicherung für Arbeitsuchende“ überführt werden, die ab 2026 gelten soll. Die Bundesregierung begründet die Reform mit einem stärkeren Fokus auf Arbeitsaufnahme, mehr Effizienz in der Verwaltung und einem angeblich besseren Umgang mit Mitnahmeeffekten.

Der Verein Tacheles e. V., seit Jahren eine der aktivsten Stimme der Erwerbslosen- und Sozialberatung, wurde im Gesetzgebungsverfahren um eine Stellungnahme seitens der Bundesregierung gebeten und spart nicht mit deutlichen Worten.

Nach seiner Einschätzung entfernt der Entwurf die neue Leistungsart weit von einer wirklichen Absicherung des Existenzminimums und stellt vielmehr einen „Frontalangriff“ auf Leistungsberechtigte dar.

Die geplanten Regelungen könnten nicht nur den Alltag von Millionen Menschen im Leistungsbezug drastisch verändern, sondern nach Ansicht des Vereins auch verfassungsrechtliche Grenzen überschreiten.

Hintergrund: Vom Bürgergeld zur „Neuen Grundsicherung“

Mit dem 13. SGB-II-Änderungsgesetz will die Bundesregierung die Grundsicherung für Arbeitsuchende neu ordnen. Offiziell wird dies als Weiterentwicklung des Bürgergelds hin zu einer „Neuen Grundsicherung“ beschrieben. Der Referentenentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium sieht umfassende Änderungen etwa bei Sanktionen, Mitwirkungspflichten, Unterkunftskosten und der Rolle der Jobcenter vor.

Schon jetzt ist absehbar, dass die Reform weit über technische Anpassungen hinausgeht. Sie knüpft an langjährige Debatten um „Fordern und Fördern“ an, verschiebt die Balance aber nach Einschätzung vieler Fachleute deutlich in Richtung Kontrolle und Druck. Verbände wie Tacheles, aber auch Wohlfahrtsorganisationen wie Caritas und Paritätischer Gesamtverband, warnen vor Verschärfungen, die besonders langzeitarbeitslose und gesundheitlich eingeschränkte Menschen hart treffen könnten.

Ein verschärftes Eingliederungsregime

Starke Kritik richtet sich gegen die geplante Neuordnung des Eingliederungsprozesses. Tacheles sieht darin eine weitgehende Abkehr von einem respektvollen Umgang auf Augenhöhe. Die bisherige Idee eines partnerschaftlich ausgehandelten Eingliederungsprozesses rückt in den Hintergrund. Stattdessen soll der vom Jobcenter erlassene verpflichtende Verwaltungsakt zum Leitinstrument werden.

Wo bislang zumindest formal Vereinbarungen zwischen Jobcenter und Leistungsberechtigten möglich waren, rückt der Entwurf stärker in Richtung einseitiger Vorgaben.

Das erhöht die Machtposition der Verwaltung und schmälert Beteiligungsrechte der Betroffenen. Konflikte über Zumutbarkeit, gesundheitliche Grenzen oder familiäre Belastungen drohen sich zu verschärfen, wenn der Weg zur Verhandlung durch starre Verwaltungsakte verstellt wird.

Tacheles bewertet dies als deutliche Verschlechterung für Arbeitslose, die ohnehin in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Behörde stehen. In der Praxis könnten Menschen noch stärker unter Druck geraten, Eingliederungsmaßnahmen zu akzeptieren, die mit ihrer Lebenssituation kaum vereinbar sind.

Kooperationsplan und Schlichtungsverfahren: Rückschritt beim Rechtsschutz
Der Kooperationsplan, im Bürgergeldverfahren ursprünglich als Instrument für einen dialogorientierten Integrationsprozess gedacht, soll nach dem neuen Entwurf nur noch eine Nebenrolle spielen.

Er verliert seine bisherige Bedeutung als verbindliche Grundlage gemeinsamer Planung. Aus Sicht von Tacheles entwertet das ein wichtiges Instrument, das auf Verständigung und Transparenz zielt.

Noch schwerer wiegt die vorgesehene Abschaffung des Schlichtungsverfahrens. Dieses war eingeführt worden, um Konflikte zwischen Leistungsberechtigten und Jobcentern außergerichtlich lösen zu können.

Die Möglichkeit, vor einer Klage eine neutrale Klärung anzustreben, soll künftig wegfallen. Damit steigt die Schwelle für Betroffene, sich gegen aus ihrer Sicht rechtswidrige Entscheidungen zu wehren. Wer keinen Zugang zu Beratung hat oder aus Angst vor Kosten und Aufwand vor Gericht zurückschreckt, könnte willkürliche oder fehlerhafte Bescheide hinnehmen müssen.

Aus rechtsstaatlicher Perspektive ist dies ein Einschnitt. In einem System, in dem existenzsichernde Leistungen von Verwaltungsentscheidungen abhängen, sind niedrigschwellige Konfliktlösungsmechanismen ein wichtiger Schutz. Ihr Wegfall verstärkt das Machtgefälle zwischen Jobcenter und Leistungsberechtigten.

Fiktion der Nichterreichbarkeit: Drei Termine, schlimme Folgen

Besonders umstritten ist die vorgesehene Regelung zur „Nichterreichbarkeit“. Nach dem Entwurf sollen drei versäumte Meldetermine innerhalb eines Monats dazu führen, dass die betroffene Person als nicht erreichbar gilt. In der Folge könnten Leistungen nach dem SGB II vollständig entfallen – also inklusive Kosten der Unterkunft und Krankenversicherung.

Was auf dem Papier wie eine klare Sanktionslogik wirkt, kann in der Realität dramatische Folgen haben. Gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen, suchtbedingten Problemlagen, chronischen Krankheiten oder instabilen Lebensverhältnissen haben häufig Schwierigkeiten, Termine zuverlässig wahrzunehmen. Sie leben nicht selten in prekären Wohnsituationen, haben keine stabile Postadresse oder sind aufgrund von Krisen schlicht überfordert.

Wenn für diese Gruppen bereits wenige versäumte Termine innerhalb kurzer Zeit zu einem vollständigen Leistungswegfall führen, drohen Obdachlosigkeit, Überschuldung und der Verlust des Krankenversicherungsschutzes. Für Beratungsstellen würde das bedeuten, Menschen zu begegnen, deren Lebenslage sich durch solche Maßnahmen nicht verbessert, sondern dramatisch verschlechtert.

Sozialpolitisch stellt sich die Frage, ob durch derart harte Konsequenzen tatsächlich Motivation und Mitwirkung gestärkt werden – oder ob sie am Ende vor allem Angst, Rückzug und Resignation erzeugen.

Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten besonders betroffen
Tacheles weist ausdrücklich darauf hin, dass die vorgesehene Fiktion der Nichterreichbarkeit Menschen trifft, die ohnehin zu den verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft zählen.

Wer mit Wohnungslosigkeit kämpft, von Gewalt betroffen ist oder eine langjährige Suchterkrankung bewältigen muss, kann Termine nicht mit derselben Verlässlichkeit einhalten wie jemand mit stabilen Lebensverhältnissen.

Die Gefahr besteht darin, dass das Gesetz ausgerechnet diejenigen am härtesten trifft, die auf eine verlässliche Absicherung am dringendsten angewiesen sind. Statt passgenauer Unterstützung und flexibler Hilfen drohen rigide Standardregeln, die den individuellen Bedarf ausblenden.

Sozialpolitisch entsteht so der Eindruck, dass Probleme wie Armut, Krankheit oder strukturelle Arbeitslosigkeit primär als individuelles Fehlverhalten behandelt werden.

Unterkunftskosten: Deckelung ohne Übergangsfristen

Ein weiterer Schwerpunkt der Kritik betrifft die geplanten Änderungen bei den Kosten der Unterkunft. Nach dem Entwurf sollen die anerkannten Unterkunftskosten sofort auf das Eineinhalbfache der als angemessen definierten Mietobergrenze begrenzt werden. Die bisher übliche Kostensenkungsfrist, in der Betroffene Zeit hatten, eine günstigere Wohnung zu finden oder andere Lösungen zu entwickeln, entfiele.

Tacheles sieht darin einen Bruch mit etablierten Rechtsstandards. Im bisherigen System war anerkannt, dass ein Wohnungswechsel Zeit braucht – zumal in angespannten Wohnungsmärkten, in denen bezahlbarer Wohnraum knapp ist.

Durch die sofortige Deckelung droht eine Lücke zwischen tatsächlicher Miete und dem, was das Jobcenter übernimmt. Diese Differenz könnten viele Haushalte aus ihrem Regelbedarf kaum ausgleichen. In der Folge steigt das Risiko von Mietschulden, Kündigungen und wohnungsbezogenen Notlagen.

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Zwar sollen strengere Regeln auch Mietwucher eindämmen und verhindern, dass Vermieter überhöhte Mieten zulasten der Sozialkassen verlangen. Doch die konkrete Ausgestaltung könnte Leistungsbeziehende überfordern. Statt sie vor Ausbeutung zu schützen, geraten sie in eine Lage, in der ihnen der Zugang zu stabilem Wohnraum weiter erschwert wird.

Pflichten für Vermieterinnen und Vermieter: Abschreckung statt Kooperation

Die Reform sieht außerdem neue Melde- und Formularpflichten für Vermieterinnen und Vermieter vor, die an Menschen im Leistungsbezug vermieten. Kommen sie diesen Pflichten nicht nach, drohen Bußgelder bis zu 5.000 Euro.

Auf dem Papier sollen diese Regelungen Transparenz schaffen, Missbrauch vorbeugen und überhöhten Mieten einen Riegel vorschieben.

In der Praxis könnte die Wirkung jedoch eine andere sein: Viele Vermieter werden es vermeiden, an Beziehende der neuen Grundsicherung zu vermieten, wenn ihnen zusätzlicher bürokratischer Aufwand und finanzielle Risiken drohen. In ohnehin angespannten Mietmärkten, etwa in Großstädten, würde sich die Konkurrenz um die wenigen bezahlbaren Wohnungen dadurch noch verschärfen.

Selbst wenn die Miete formal im Rahmen der als angemessen definierten Obergrenzen liegt, finden Bürgergeld-Bezieher schlicht keinen Vermieter, der bereit ist, einen Mietvertrag abzuschließen. Diskriminierung gegenüber Menschen im Leistungsbezug dürfte sich damit eher verstärken, als dass sie abgebaut wird.

Verschärftes Sanktionsregime: Alte Debatte, neue Konflikte

Die geplante neue Grundsicherung setzt stark auf ein verschärftes Sanktionsregime. Terminversäumnisse, fehlende Nachweise von Eigenbemühungen oder die Ablehnung einer als zumutbar eingestuften Tätigkeit sollen deutlich kräftigere Leistungskürzungen nach sich ziehen als bisher. Nach Einschätzung von Tacheles ermöglicht der Entwurf bereits beim ersten Fall der Ablehnung einer zumutbaren Beschäftigung den vollständigen Entzug der Regelleistung.

Brisant ist auch, dass Sanktionen nicht zwangsläufig aufgehoben werden sollen, sobald sich das Verhalten ändert. In der Gesetzesbegründung werden Sanktionen zwar als Instrument dargestellt, das kurzfristige Verhaltensänderungen auslösen soll.

Dennoch sieht der Entwurf Mechanismen vor, bei denen Kürzungen fortwirken, obwohl sich Betroffene wieder kooperativ verhalten. Die Logik eines „Lernanreizes“ wird so zugunsten eines Strafcharakters überlagert.

Empirisch ist die Wirksamkeit harter Sanktionen auf dem Arbeitsmarkt umstritten. Studien deuten nämlich darauf hin, dass sie zwar kurzfristig zu einer höheren Abgangsquote aus dem Leistungsbezug führen können, dabei aber nicht unbedingt zu stabiler und existenzsichernder Beschäftigung. Häufig wechseln Betroffene in prekäre Jobs, Minijobs oder unsichere Selbständigkeit. Langfristige Integrationschancen bleiben begrenzt.

Konflikt mit dem verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimum

Besonders heikel sind die geplanten Sanktionen im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In seinem Urteil vom 5. November 2019 hat das Gericht entschieden, dass Kürzungen von Leistungen nach dem SGB II über 30 Prozent des Regelbedarfs hinaus mit dem Grundgesetz unvereinbar sind, wenn sie das Existenzminimum dauerhaft unterschreiten und keine hinreichenden Ausnahmen oder Härtefallregelungen vorsehen.

Das Gericht hat zwar bestätigt, dass der Gesetzgeber Mitwirkungspflichten durchsetzen darf. Zugleich hat es aber klargestellt, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zur Disposition steht. Sanktionen dürfen nicht in eine Situation führen, in der grundlegende Bedarfe wie Ernährung, Unterkunft, Heizung und Gesundheitsversorgung nicht mehr gedeckt werden können.

Nach Einschätzung von Tacheles laufen die im 13. SGB-II-Änderungsgesetz vorgesehenen Regelungen Gefahr, genau diese Grenze zu überschreiten.

Wenn Leistungen komplett entfallen oder massiv gekürzt werden, ohne dass zugleich ein gesicherter Zugang zu Sachleistungen, Gutscheinen oder anderen Hilfen gewährleistet wird, entsteht eine Spannung zur verfassungsgerichtlichen Linie. Fachjuristinnen und Fachjuristen rechnen daher mit erneuten Klagen gegen die Reform.

Wirkung auf Vertrauen in Staat und Institutionen

Sozialpolitische Reformen, die das Existenzminimum berühren, haben immer auch eine demokratiepolitische Dimension. Tacheles warnt davor, dass die geplanten Neuregelungen das Vertrauen in Staat und Institutionen nachhaltig beschädigen könnten. Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, erleben die Reform nicht als Verbesserung ihrer Lage, sondern als Bedrohung ihrer elementaren Absicherung.

Wenn Betroffene das Gefühl haben, systematisch unter Druck gesetzt, kontrolliert und bei kleinsten Verfehlungen hart bestraft zu werden, entsteht ein Klima der Angst.

Wer aus persönlichen, gesundheitlichen oder sozialen Gründen Anforderungen nicht erfüllen kann, erlebt den Sozialstaat dann nicht als Schutz, sondern als permanente Drohkulisse. Zugleich wird in der öffentlichen Debatte das Bild verfestigt, Leistungsberechtigte seien vor allem problematisch und kontrollbedürftig.

Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist dies fatal. Ein Sozialstaat, der von großen Teilen der Bevölkerung als repressiv wahrgenommen wird, verliert seine integrative Wirkung. Polarisierungen zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, zwischen „Zahlenden“ und „Empfangenden“, nehmen zu. Populistische Kräfte können solche Konflikte nutzen, um pauschale Vorurteile zu schüren.

Einschätzung von Tacheles: Schritt in Richtung Abbau des Sozialstaats

Aus der Summe all dieser Aspekte zieht Tacheles ein deutliches Fazit: Der Verein lehnt den Gesetzentwurf in seiner Gesamtheit ab. Aus seiner Sicht unterminiert der Entwurf grundlegende Rechte von Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, und ignoriert deren Lebensrealitäten. Statt auf Unterstützung und individuelle Förderung setze die Reform auf Kontrolle, Sanktion und Abschreckung.

Besonders kritisch bewertet Tacheles, dass die Reform in einer ohnehin angespannten gesellschaftlichen Situation vorangetrieben wird. Steigende Lebenshaltungskosten, angespannte Wohnungsmärkte und Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt belasten viele Haushalte.

Eine Politik, die ausgerechnet in dieser Lage das Netz sozialer Sicherung ausdünnt und den Druck auf Arbeitslose erhöht, könnte die gesellschaftliche Spaltung eher vertiefen als abbauen, so die Kritik.

In der Schlussbewertung warnt der Verein vor einem gefährlichen Kurs: Die geplanten Neuregelungen stünden für eine schrittweise Demontage sozialstaatlicher Errungenschaften und könnten langfristig auch die demokratische Kultur beschädigen.

Wie geht es weiter?

Das 13. SGB-II-Änderungsgesetz befindet sich noch im Gesetzgebungsverfahren, Änderungen sind daher grundsätzlich möglich. Angesichts der Schärfe der Kritik von Verbänden, sozialen Initiativen und Teilen der Fachöffentlichkeit ist mit intensiven parlamentarischen Auseinandersetzungen zu rechnen. Auch juristische Prüfungen – bis hin zu erneuten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht – zeichnen sich bereits ab.

Unabhängig vom weiteren Verlauf macht die Stellungnahme von Tacheles deutlich, worum es in der Debatte geht: Nämlich um die Frage, ob die neue Grundsicherung Menschen in schwierigen Lebenslagen unterstützt oder ihnen das Leben zusätzlich erschwert.

Die Antwort darauf wird entscheidend dafür sein, wie die Reform in der Gesellschaft wahrgenommen wird – als Modernisierung des Sozialstaats oder als Abbau seines Schutzversprechens.

Quelle: Hier gehts zur kompletten Stellungnahme des Verein “Tacheles e.V.”