Für viele Beziehende von Bürgergeld gehört der Brief vom Jobcenter zum Alltag. Häufig enthalten diese Schreiben sogenannte Vermittlungsvorschläge, also konkrete Hinweise auf offene Stellen, auf die man sich bewerben soll.
Wer diesen Aufforderungen nicht nachkommt, riskiert Kürzungen der Leistungen. Doch nicht jeder fehlende Bewerbungsversuch ist automatisch eine „Weigerung“, die Sanktionen rechtfertigt.
Genau hier setzt eine Entscheidung (Az. S 3 AS 113/20) des Sozialgerichts Speyer an. Das Gericht hat deutlich gemacht, dass es auf die Gesamtumstände ankommt und nicht allein auf die Frage, ob auf jeden einzelnen Vermittlungsvorschlag eine Bewerbung verschickt wurde. Damit hat das Gericht der oft sehr schematischen Praxis mancher Jobcenter Grenzen aufgezeigt.
Der konkrete Fall: Vier vermeintliche „Weigerungen“ und eine drastische Kürzung
Im verhandelten Fall ging es um einen Bürgergeld-Beziehenden, der vom Jobcenter mehrfach Vermittlungsvorschläge erhalten hatte. Bereits in der Vergangenheit waren gegen ihn Sanktionen verhängt worden, weil er sich nicht auf alle vorgeschlagenen Stellen beworben hatte.
Als erneut mehrere Vorschläge bei ihm eintrafen, reagierte er abermals nicht auf jede einzelne Stelle. Aus Sicht des Jobcenters war dies bereits die vierte „Weigerung“. Die Behörde sah darin ein fortgesetztes pflichtwidriges Verhalten und kürzte den Regelsatz um 30 Prozent.
Nach Angaben des DGB-Rechtsschutzbüros Ludwigshafen lagen insgesamt 14 Vermittlungsvorschläge vor. Der Mann hatte fünf Vorschläge mit der Begründung zurückgegeben, dass er sich darauf nicht beworben habe. Auf neun Stellen hingegen hatte er sich beworben. Trotz dieser deutlichen Mehrzahl an Bewerbungen sah das Jobcenter eine beharrliche Ablehnung und verhängte die Sanktion.
Starre Vorgaben im Gesetz – und die Entscheidung der Gerichte
Rein formal betrachtet schien das Vorgehen des Jobcenters zunächst mit dem Gesetz vereinbar zu sein. Die Regelungen des SGB II, in denen Pflichten und mögliche Sanktionen für Leistungsbeziehende geregelt sind, sind äußerst rigide formuliert.
Die Logik des Jobcenters ist schlicht: Liegt eine Pflichtverletzung vor, etwa weil eine zumutbare Beschäftigung abgelehnt oder eine geforderte Bewerbung nicht versendet wurde, kann das Jobcenter eine Kürzung der Leistungen aussprechen.
Abstufungen oder mildere Wertungen sind im Gesetzestext selbst nur sehr begrenzt vorgesehen. Im Zweifel ist eine unterlassene Bewerbung eine Ablehnung – unabhängig davon, wie der Rest des Verhaltens aussieht.
Genau an diesem Punkt setzt die Rechtsprechung an. Das Sozialgericht Speyer hat – wie andere Gerichte zuvor – darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Regeln nicht isoliert und mechanisch angewendet werden dürfen. Im Urteil betonte das Gericht, dass die Vorschriften restriktiv auszulegen sind.
Das heißt: Bevor eine Sanktion verhängt wird, muss geprüft werden, wie sich der oder die Betroffene insgesamt verhalten hat. Eine einzelne unterlassene Bewerbung darf nicht automatisch zu einer Leistungskürzung führen, wenn das Gesamtbild ein anderes spricht.
Gesamtbetrachtung statt Automatismus
Das Sozialgericht machte klar, dass nicht die abstrakte Zahl der offenen Bewerbungen ausschlaggebend ist, sondern der Eindruck, der sich aus dem gesamten Verhalten ergibt.
Der Leistungsbeziehende hatte sich auf den Großteil der Vorschläge beworben. Neun Bewerbungen standen fünf nicht genutzten Vermittlungsvorschlägen gegenüber. Vor diesem Hintergrund könne man nicht von einer Haltung sprechen, die darauf gerichtet sei, die eigene Hilfebedürftigkeit nicht zu verringern, so das Gericht.
Zur Verdeutlichung führte der Richter ein anschauliches Beispiel an:
Würde sich jemand bei 100 zugestellten Stellenangeboten nur auf eine einzige Stelle nicht bewerben, wäre es offensichtlich unverhältnismäßig, deswegen Leistungen zu kürzen. Umgekehrt wäre es kaum nachvollziehbar, Sanktionen gänzlich zu unterlassen, wenn jemand sich nur auf eine von 100 Stellen bewirbt und alle anderen konsequent ignoriert.
Zwischen diesen beiden Extremen liegt eine breite Grauzone. Genau diese Grauzone spielte im Speyerer Fall eine Rolle: Der Kläger hatte sich erkennbar bemüht, indem er sich auf die Mehrheit der Vorschläge beworben hatte. Er blieb zwar hinter den Möglichkeiten zurück, verhinderte damit aber nicht die Anbahnung einer Beschäftigung.
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Bescheid prüfenAus Sicht des Gerichts lag daher keine echte „Weigerungshaltung“ vor. Die 30-prozentige Kürzung war nach dieser Bewertung nicht gerechtfertigt.
Signal an die Jobcenter: Verhältnismäßigkeit gilt auch im Sanktionsrecht
Die Entscheidung ist ein deutliches Signal an die Jobcenter. Sie mahnt zu mehr Augenmaß bei der Beurteilung, wann eine Pflichtverletzung tatsächlich so gravierend ist, dass sie Sanktionen rechtfertigt.
Jobcenter sind an das Gesetz gebunden. Gleichzeitig sind sie verpflichtet, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Sanktionen greifen in die Existenzsicherung ein und können Betroffene in ohnehin prekären Lebenslagen weiter destabilisieren.
Das Urteil erinnert daran, dass selbst bei scheinbar klaren Rechtsfolgen – wie im Bereich der Bürgergeld-Sanktionen – nicht allein Zahlen und Aktenvermerke zählen. Maßgeblich ist, ob sich aus dem Gesamtverhalten tatsächlich ein Bild ergibt, das auf mangelnde Mitwirkung schließen lässt, oder ob eher von einem eingeschränkten, aber erkennbaren Bemühen um Integration in den Arbeitsmarkt auszugehen ist.
Bürgergeld unter Druck
Während Gerichte wie das Sozialgericht Speyer für eine differenzierte Anwendung der bestehenden Regeln werben, wird politisch bereits an einer Reform gearbeitet, die die Spielräume eher verengen als erweitern dürfte.
Neue Grundsicherung: Rückkehr zu mehr Druck und Vermittlungsvorrang
Mit der „Neuen Grundsicherung“ soll das Prinzip des Forderns wieder stärker in den Vordergrund rücken. Geplant ist, den sogenannten Vermittlungsvorrang erneut stärker zu betonen. Das bedeutet, dass die schnelle Vermittlung in Arbeit, auch in einfache oder weniger gut bezahlte Tätigkeiten, wieder deutlich stärker gewichtet werden soll.
Wer zumutbare Jobangebote mehrfach und ohne triftigen Grund ablehnt, muss künftig mit deutlich schärferen Konsequenzen rechnen. Diskutiert werden höhere Sanktionsstufen bis hin zum vollständigen Entzug der Leistungen, zumindest für begrenzte Zeiträume.
Auch die Mitwirkungspflichten sollen verschärft werden. Termine beim Jobcenter, Maßnahmen zur Aktivierung und Qualifizierung sowie die fristgerechte Reaktion auf Vermittlungsvorschläge werden noch wichtiger. Verstöße könnten schneller und härter geahndet werden als bisher.
Für Betroffene würde dies bedeuten, dass bereits ein vergleichsweise kurzer Zeitraum unzureichender Mitwirkung Folgen für die monatliche Auszahlung haben kann. Der Spielraum, Fehler zu korrigieren oder Versäumnisse nachzuholen, könnte damit kleiner werden.
Was die Entscheidung aus Speyer künftig bedeuten kann
Die Entscheidung aus Speyer ist in dieser Situation mehr als nur ein Einzelfall. Sie zeigt, wie Gerichte versuchen, aus sehr rigiden gesetzlichen Vorgaben eine ausgewogene Lösung zu entwickeln.
Sollte die „Neue Grundsicherung“ tatsächlich mit härteren Sanktionsmechanismen eingeführt werden, stellt sich die Frage, wie die Rechtsprechung darauf reagieren wird. Denn die Anforderungen an Verhältnismäßigkeit und eine faire Abwägung der Umstände werden sich nicht einfach in Luft auflösen, nur weil die Gesetze strenger formuliert sind.
Gerade in einem System, in dem die Androhung gravierender Leistungskürzungen häufiger werden könnte, wird es umso wichtiger sein, jede einzelne Entscheidung kritisch zu prüfen. Gerichte dürften auch künftig darauf achten, ob eine tatsächliche Verweigerungshaltung vorliegt oder ob jemand trotz aller Schwierigkeiten in gewissem Umfang mitwirkt.
Rechte und Pflichten der Leistungsbeziehenden
Für Bürgergeld-Beziehende bleibt die Lage kritisch. Sie sind verpflichtet, an ihrer Integration in den Arbeitsmarkt mitzuwirken, Bewerbungen zu schreiben, Termine wahrzunehmen und auf Vermittlungsvorschläge zu reagieren.
Gleichzeitig haben sie Rechte: Sie dürfen verlangen, dass Jobcenter ihre Situation nicht schematisch, sondern differenziert betrachten. Wer sich ernsthaft bemüht, sollte nicht behandelt werden wie jemand, der Angebote bewusst ignoriert.
Wer eine Sanktion erhält, kann Widerspruch einlegen und – wenn nötig – Klage erheben. Der Fall aus Speyer zeigt, dass sich dieser Weg lohnen kann. Unterstützung bieten dabei häufig Gewerkschaften, Sozialverbände und Beratungsstellen, die rechtlichen Beistand organisieren oder vermitteln.




