EM-Rente auch wer mehr als 6 Stunden arbeiten kann

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โ€žWer sechs Stunden am Tag arbeiten kann, bekommt keine Erwerbsminderungsrente.โ€œ Dieser Satz hรคlt sich hartnรคckig โ€“ und ist so pauschal falsch. Zwar spielt die tรคgliche Arbeitszeit eine groรŸe Rolle, aber das Rentenrecht kennt mehr als nur die Frage, wie viele Stunden jemand noch tรคtig sein kann. Entscheidend ist auch, wie jemand arbeiten kann und unter welchen Bedingungen.

Quantitative und qualitative Leistungseinschrรคnkungen

Im Rentenrecht wird zunรคchst unterschieden zwischen quantitativen und qualitativen Leistungseinschrรคnkungen.

Von einer quantitativen Leistungseinschrรคnkung spricht man, wenn jemand aus gesundheitlichen Grรผnden nicht mehr in vollem Umfang arbeiten kann. MaรŸstab ist dabei die tรคgliche Arbeitszeit.

Wer nur noch weniger als sechs Stunden pro Tag arbeiten kann, gilt zeitlich eingeschrรคnkt leistungsfรคhig. In diesen Fรคllen ist der Zugang zur EM-Rente in der Praxis deutlich wahrscheinlicher, weil die zeitliche Belastbarkeit direkt unterhalb der maรŸgeblichen Grenze liegt.

Anders ist es bei qualitativen Leistungseinschrรคnkungen. Hier kรถnnen Betroffene zwar noch vollzeitfรคhig sein, aber bestimmte Tรคtigkeiten oder Arbeitsbedingungen nicht mehr ausรผben.

Typische Beispiele sind kรถrperlich schwere Arbeiten, Tรคtigkeiten mit hoher geistiger Beanspruchung, stark psychisch belastende Tรคtigkeiten oder Arbeiten im Schicht- und Nachtdienst. Auch Unvertrรคglichkeiten gegenรผber Hitze, Kรคlte, Nรคsse oder Zugluft zรคhlen dazu.

Qualitative Einschrรคnkungen bedeuten also: Die verfรผgbare Zeit ist nicht das Problem, sondern Art und Rahmen der Arbeit. Wer โ€žnurโ€œ qualitative Einschrรคnkungen hat, hat es deutlich schwerer, eine EM-Rente zu erhalten. In vielen Fรคllen bleiben Betroffene auf Arbeitsuche oder mรผssen Leistungen wie Bรผrgergeld beziehen โ€“ nicht selten verbunden mit erheblichem Druck und drohenden Kรผrzungen durch das Jobcenter, obwohl sie objektiv eingeschrรคnkt sind.

Der allgemeine Arbeitsmarkt und seine โ€žรผblichen Bedingungenโ€œ

Um zu verstehen, wann qualitative Einschrรคnkungen zu einem Rentenanspruch fรผhren kรถnnen, lohnt sich ein Blick auf einen weiteren Begriff aus dem Rentenrecht: den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Zum allgemeinen Arbeitsmarkt zรคhlen alle denkbaren bezahlten Tรคtigkeiten in Deutschland, die nicht dem sogenannten besonderen Arbeitsmarkt vorbehalten sind. Der besondere Arbeitsmarkt umfasst etwa Werkstรคtten fรผr Menschen mit Behinderungen, gefรถrderte Stellen in Inklusionsbetrieben oder bestimmte MaรŸnahmen des Jobcenters, zu denen zum Beispiel Ein-Euro-Jobs gehรถren.

Fรผr die Beurteilung der Erwerbsminderung ist entscheidend, ob eine Person noch unter den โ€žรผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktsโ€œ einsetzbar ist. Zu diesen รผblichen Bedingungen zรคhlen zunรคchst arbeitsrechtliche Mindeststandards: gesetzlich geregelte Pausen, Urlaubsansprรผche und Arbeitsschutzbestimmungen. Hinzu kommen die Bedingungen, die รผblicherweise in Tarifvertrรคgen und Arbeitsvertrรคgen geregelt sind.

Auch bestimmte Mindestanforderungen an jede regulรคre Beschรคftigung gehรถren dazu: ein gewisses MaรŸ an Konzentrationsfรคhigkeit, die Fรคhigkeit, mit normalem Stress, Frust und Verรคnderungen umgehen zu kรถnnen.

Arbeitsbedingungen gelten rechtlich als รผblich, wenn es in nennenswertem Umfang Stellen mit solchen Voraussetzungen gibt โ€“ es reicht, dass solche Stellen theoretisch existieren, auch wenn gerade keine konkrete Stelle ausgeschrieben ist.

Ob dieser โ€žnennenswerte Umfangโ€œ erreicht ist, wird nicht mit einer starren Zahl festgelegt. Es kommt immer auf den Einzelfall an. Entscheidend ist, ob es realistisch erscheint, dass jemand irgendwann in einen passenden Job vermittelt werden kรถnnte โ€“ zumindest theoretisch.

Wichtig sind Vergleichstรคtigkeiten

Ein weiterer sozialrechtlicher Begriff im Zusammenhang mit qualitativen Leistungseinschrรคnkungen ist die sogenannte Vergleichstรคtigkeit. Damit ist eine Tรคtigkeit gemeint, die eine Person trotz ihrer gesundheitlichen Einschrรคnkungen noch ausรผben kann โ€“ und zwar unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts.

In bestimmten Konstellationen ist die Deutsche Rentenversicherung verpflichtet, eine solche konkrete Vergleichstรคtigkeit zu benennen, wenn sie eine EM-Rente ablehnen mรถchte. Diese Tรคtigkeit muss es auf dem Arbeitsmarkt tatsรคchlich in nennenswertem Umfang geben. Es reicht nicht, eine theoretische oder praktisch nicht vorhandene Stelle zu konstruieren.

Bei vielen โ€žgewรถhnlichenโ€œ qualitativen Einschrรคnkungen darf die Rentenversicherung allerdings grundsรคtzlich davon ausgehen, dass es noch geeignete Tรคtigkeiten gibt. In diesen Fรคllen kann sie eine EM-Rente ablehnen, ohne eine genaue Vergleichstรคtigkeit zu benennen.

Als gewรถhnliche qualitative Einschrรคnkungen gelten beispielsweise die Beschrรคnkung auf kรถrperlich leichte Arbeiten, die Notwendigkeit, extreme Temperaturen oder Zugluft zu vermeiden oder der Ausschluss von Tรคtigkeiten mit Publikumsverkehr.

Entscheidend wird die Vergleichstรคtigkeit vor allem bei schwerwiegenderen oder sich summierenden Leistungseinschrรคnkungen.

Schwere spezifische Leistungseinschrรคnkungen

Eine besondere Rolle in der Bewertung spielen sogenannte schwere spezifische Leistungseinschrรคnkungen. Liegen solche vor, muss die Rentenversicherung grundsรคtzlich eine konkrete Vergleichstรคtigkeit nennen kรถnnen. Gelingt ihr das nicht, ist eine EM-Rente zu bewilligen.

Als schwere spezifische Leistungseinschrรคnkung kommt zum Beispiel in Betracht, wenn jemand blind ist, nur noch einen Arm hat oder sich nur mit erheblichen Schwierigkeiten an Verรคnderungen anpassen kann. Es geht um gravierende Einschrรคnkungen in einem klar umrissenen Bereich, die die berufliche Einsetzbarkeit massiv begrenzen.

Fรผr Betroffene bedeutet das: Solche Einschrรคnkungen sollten im Rentenantrag unbedingt ausfรผhrlich beschrieben werden. Medizinische Befunde, Berichte und Gutachten, die diese Einschrรคnkungen belegen, sind besonders wichtig. Auch bei รคrztlichen oder rentenrechtlichen Begutachtungen sollten diese Punkte aktiv angesprochen werden.

Lehnt die Rentenversicherung eine EM-Rente in einer solchen Konstellation ab, ohne eine tatsรคchlich passende Vergleichstรคtigkeit zu nennen, besteht die Mรถglichkeit, sich mit einem Widerspruch zur Wehr zu setzen. Eine Beratung โ€“ etwa durch Sozialverbรคnde, Fachanwรคltinnen und Fachanwรคlte fรผr Sozialrecht oder unabhรคngige Beratungsstellen โ€“ ist dann oft hilfreich.

Summierung ungewรถhnlicher Leistungseinschrรคnkungen

Nicht immer ist eine einzelne Einschrรคnkung so gravierend, dass sie allein eine EM-Rente rechtfertigt. Dennoch kann die Gesamtsituation sehr belastend sein. In der Rechtsprechung hat sich dafรผr der Begriff โ€žSummierung ungewรถhnlicher Leistungseinschrรคnkungenโ€œ etabliert.

Gemeint ist, dass mehrere ungewรถhnliche Einschrรคnkungen zusammentreffen โ€“ oder zu einer bereits bestehenden gewรถhnlichen Einschrรคnkung hinzukommen โ€“ und sich gegenseitig verstรคrken.

Jede einzelne Beeintrรคchtigung fรผr sich genommen wรคre vielleicht noch verkraftbar. Zusammengenommen entsteht jedoch eine Situation, in der kaum noch ein realistischer Arbeitsplatz gefunden werden kann.

Ein typisches Beispiel: Eine Frau kann nach einer schweren Erkrankung nur noch leichte kรถrperliche Tรคtigkeiten ausรผben. Das allein wรคre eine gewรถhnliche Einschrรคnkung, fรผr die es auf dem Arbeitsmarkt noch viele Mรถglichkeiten gรคbe. Wenn aber zusรคtzlich aufgrund einer Therapie Nervenschรคden an den Hรคnden vorliegen und eine deutliche Sehschwรคche besteht, kommen zwei ungewรถhnliche Einschrรคnkungen hinzu. Muss die Betroffene wegen einer Epilepsie auรŸerdem auf Schichtarbeit verzichten, fallen weitere Tรคtigkeiten weg.

In der Summe kann es dann sein, dass selbst an sich einfache Hilfstรคtigkeiten nicht mehr mรถglich sind. Mรถchte die Rentenversicherung in einer solchen Situation die EM-Rente ablehnen, muss sie eine konkret zumutbare Vergleichstรคtigkeit benennen. Gelingt das nicht, spricht viel fรผr einen Rentenanspruch.

Mehrere gewรถhnliche Einschrรคnkungen mit ungewรถhnlichen Auswirkungen
Auch mehrere an sich gewรถhnliche Leistungseinschrรคnkungen kรถnnen zusammen eine besondere Schwere erreichen. Dann ist von โ€žSummierung gewรถhnlicher Leistungseinschrรคnkungen mit ungewรถhnlichen Auswirkungenโ€œ die Rede.

Ein Beispiel ist eine Person, die aus gesundheitlichen Grรผnden nur noch leichte kรถrperliche Tรคtigkeiten verrichten darf, gleichzeitig aber aufgrund einer leichten Intelligenzminderung und ausgeprรคgter Konzentrationsschwierigkeiten keine Arbeiten mit mittleren oder hohen geistigen Anforderungen ausรผben kann.

Damit kommen nur noch Tรคtigkeiten in Betracht, die kรถrperlich und geistig besonders wenig fordern.

In solchen Konstellationen kann der theoretisch verbleibende Arbeitsmarkt so klein werden, dass es faktisch kaum noch realistische Beschรคftigungsmรถglichkeiten gibt. Auch dann ist die Rentenversicherung gehalten, eine passende Vergleichstรคtigkeit zu nennen, wenn sie eine EM-Rente ablehnt. Kann sie das nicht, kann ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente bestehen โ€“ obwohl die betroffene Person zeitlich noch voll belastbar wรคre.

EM-Rente und Bรผrgergeld: Wichtig ist Ruhe zu haben

Viele Betroffene stehen zwischen zwei Systemen: Sie sind gesundheitlich eingeschrรคnkt, erhalten aber wegen rein qualitativer Einschrรคnkungen zunรคchst keine EM-Rente und sind auf Bรผrgergeld angewiesen. Gleichzeitig verlangen Jobcenter hรคufig Bewerbungen und die Mitwirkung an MaรŸnahmen โ€“ bis hin zu Sanktionen โ€“, obwohl die gesundheitliche Situation eine echte Vermittlung kaum zulรคsst.

Die Leistungen sind bei einer EM-Rente nicht immer hรถher als beim Bรผrgergeld, oft sogar etwas niedriger. Dennoch kann eine bewilligte Rente ein wichtiges Stรผck Entlastung bringen: Die stรคndige Sorge vor Kรผrzungen entfรคllt, der Fokus kann stรคrker auf Stabilisierung der Gesundheit und Alltagsbewรคltigung gelegt werden.

Teilweise Erwerbsminderung und Arbeitsmarktrente

Nicht alle Betroffenen sind voll erwerbsgemindert. Manchmal erkennen die Gutachten, dass grundsรคtzlich noch eine Tรคtigkeit in Teilzeit mรถglich wรคre โ€“ etwa drei bis unter sechs Stunden tรคglich. In diesen Fรคllen kommt eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung in Betracht.

In der Praxis stellt sich dann hรคufig das Problem, dass sich keine passende Teilzeitstelle findet, die den gesundheitlichen Einschrรคnkungen entspricht. Ist der Teilzeitarbeitsmarkt faktisch โ€žverschlossenโ€œ, kann sich daraus ein Anspruch auf eine sogenannte Arbeitsmarktrente ergeben. Dabei wird die teilweise EM-Rente wie eine volle EM-Rente gezahlt, weil der Arbeitsmarkt keine realistischen Einsatzmรถglichkeiten bietet.

Auch hier lohnt es sich, genau hinzuschauen und gegebenenfalls Unterstรผtzung einzuholen, wenn trotz theoretischer Teilzeitfรคhigkeit keine passende Arbeit gefunden wird.

Praxisbeispiel: Wenn volle Stundenzahl trotzdem nicht mehr arbeitsfรคhig bedeutet

Um zu verdeutlichen, wie qualitative Leistungseinschrรคnkungen in der Realitรคt wirken kรถnnen, hilft ein Blick auf einen fiktiven, aber typischen Fall aus der Praxis.

Ausgangslage: Ein erfahrener Lagerarbeiter wird krank
Herr K., 53 Jahre alt, arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Lagerarbeiter in einem mittelstรคndischen Betrieb. Sein Alltag besteht aus schwerem Heben und Tragen, Arbeiten im Stehen, Fahren von Flurfรถrderzeugen und regelmรครŸigen Spรคtschichten.

Mit den Jahren verschlechtern sich seine gesundheitlichen Werte. Nach mehreren Bandscheibenvorfรคllen, einer Operation an der Lendenwirbelsรคule und wiederkehrenden Schmerzen im Knie ist kรถrperlich schwere Arbeit kaum noch mรถglich. Hinzu kommen Schlafstรถrungen und eine depressive Verstimmung, die im Zusammenhang mit den dauerhaften Schmerzen und der beruflichen Unsicherheit stehen.

Der behandelnde Orthopรคde und die Hausรคrztin sind sich einig: Herr K. sollte keine Tรคtigkeiten mehr ausรผben, bei denen regelmรครŸig schwere Lasten zu bewegen sind, langes Stehen oder Gehen erforderlich ist oder hรคufiges Bรผcken anfรคllt. Der Psychiater empfiehlt zusรคtzlich, Schichtarbeit und stark stressbeladene Situationen zu vermeiden.

Gesundheitliche Einschrรคnkungen: Voll belastbar in der Zeit, aber nicht in der Art der Arbeit

Im Gutachten der Rentenversicherung wird festgestellt, dass Herr K. kรถrperlich nicht mehr fรผr seinen bisherigen Beruf geeignet ist. Allerdings kommt der Gutachter zu dem Schluss, dass er noch vollschichtig, also bis zu acht Stunden tรคglich, leichte Tรคtigkeiten verrichten kann โ€“ vorzugsweise im Sitzen, ohne schweres Heben, ohne Zwangshaltungen, ohne Schichtdienst und ohne starken Zeitdruck.

Aus Sicht des Gutachtens liegt damit keine quantitative, sondern โ€žnurโ€œ eine qualitative Leistungseinschrรคnkung vor: Die tรคgliche Stundenzahl ist theoretisch unverรคndert, aber die Art der Tรคtigkeiten ist stark begrenzt.

Erste Entscheidung der Rentenversicherung: Ablehnung mit Hinweis auf den allgemeinen Arbeitsmarkt

Die Rentenversicherung lehnt den Antrag auf Erwerbsminderungsrente zunรคchst ab. Die Begrรผndung: Herr K. sei noch vollschichtig fรผr leichte Tรคtigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts einsetzbar. Konkrete Tรคtigkeiten werden in dem Bescheid nicht benannt, es bleibt bei allgemeinen Formulierungen wie โ€žleichte Bรผrotรคtigkeitenโ€œ oder โ€žeinfache Sortierarbeitenโ€œ.
Fรผr Herrn K. ist das ein Schock.

Einen Bรผroberuf hat er nie ausgeรผbt, Computerkenntnisse sind kaum vorhanden, seine Konzentrationsprobleme machen lรคngere Bildschirmarbeit zusรคtzlich schwierig. Bei der Agentur fรผr Arbeit wird ihm signalisiert, dass seine Vermittlungschancen sehr gering sind. Mehrere Bewerbungen auf einfachere Tรคtigkeiten scheitern schon an den gesundheitlichen Anforderungen: zu viel Stehen, zu viel Heben, Schichtdienst oder Akkordarbeit.

Widerspruch: Die Gesamtsituation muss bewertet werden

Gemeinsam mit einer Sozialberatungsstelle legt Herr K. Widerspruch gegen den Bescheid ein. Dabei werden seine Einschrรคnkungen ausfรผhrlich dargestellt und durch Berichte der behandelnden ร„rztinnen und ร„rzte untermauert. Wichtig ist, dass nicht nur auf den Rรผcken und das Knie hingewiesen wird, sondern auch auf:

  • die Unvertrรคglichkeit von Schichtdienst,
  • die ausgeprรคgte Schmerzsymptomatik mit Konzentrationsstรถrungen,
  • die psychische Belastung mit depressiver Symptomatik,
  • die geringe Belastbarkeit unter Zeitdruck.

Im Widerspruch wird darauf hingewiesen, dass hier mehrere Einschrรคnkungen zusammenkommen, die sich gegenseitig verstรคrken. Herr K. kann keine kรถrperlich anstrengenden Tรคtigkeiten mehr ausรผben, kommt mit Stress und hรคufigen Verรคnderungen schlecht zurecht und ist durch seine psychische Situation weniger lern- und anpassungsfรคhig. Tรคtigkeiten mit Publikumsverkehr oder permanenter Kommunikation sind aufgrund von Unsicherheit und Rรผckzugstendenzen ebenfalls kaum umsetzbar.

Die Beratungsstelle argumentiert, dass in diesem Fall die Summe der Einschrรคnkungen das Bild prรคgt und die Rentenversicherung nicht einfach pauschal auf โ€žleichte Tรคtigkeitenโ€œ verweisen kann. Sie fordert, dass eine konkrete Vergleichstรคtigkeit benannt wird, die Herr K. unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts tatsรคchlich ausรผben kรถnnte und die es in nennenswertem Umfang gibt.

Zweite Begutachtung: Mehrere Einschrรคnkungen mit ungewรถhnlichen Auswirkungen

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens wird ein weiteres sozialmedizinisches Gutachten eingeholt. Der neue Gutachter bestรคtigt zwar, dass Herr K. rein zeitlich noch einige Stunden am Tag arbeiten kรถnnte, allerdings nur unter sehr engen Bedingungen:

  • รผberwiegend sitzende Tรคtigkeit,
  • kein Heben und Tragen mehr als fรผnf Kilogramm,
  • keine Tรคtigkeiten, bei denen dauerhaft die Wirbelsรคule belastet wird,
  • keine Schichtarbeit, kein Nacht- und Wochenenddienst,
  • nur geringe Anforderungen an Konzentration und Tempo,
  • kein stรคndiger Publikumsverkehr oder Konfliktsituationen,
  • regelmรครŸige Pausen und ein eher ruhiges Arbeitsumfeld.

Im Gutachten wird ausdrรผcklich festgehalten, dass mehrere Einschrรคnkungen zusammentreffen, die den verbleibenden Arbeitsmarkt stark einschrรคnken. Damit entsteht eine Gesamtsituation, in der die formale โ€žVollzeittauglichkeitโ€œ nur noch auf dem Papier existiert, praktisch aber kaum eine passende Stelle zu finden ist.

Entscheidung im Widerspruchsverfahren: Bewilligung der EM-Rente

Mit Verweis auf das neue Gutachten und die umfangreichen Einschrรคnkungen prรผft die Rentenversicherung erneut, ob eine konkrete Vergleichstรคtigkeit existiert. Es gelingt nicht, eine realistische Tรคtigkeit zu benennen, die unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts verfรผgbar wรคre und zugleich allen festgestellten Einschrรคnkungen gerecht wird.

Vor diesem Hintergrund wird der ursprรผngliche Ablehnungsbescheid aufgehoben. Herr K. erhรคlt eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, obwohl er rein formal noch mehrere Stunden tรคglich arbeiten kรถnnte. Ausschlaggebend ist die Gesamtheit der qualitativen Leistungseinschrรคnkungen und die Tatsache, dass der allgemeine Arbeitsmarkt fรผr ihn faktisch nicht mehr zugรคnglich ist.

Was Betroffene aus diesem Beispiel mitnehmen kรถnnen

Der Fall von Herrn K. zeigt, dass es bei der EM-Rente nicht nur auf eine Stundenzahl ankommt. Entscheidend ist, wie die gesundheitlichen Einschrรคnkungen im Zusammenspiel wirken und ob es unter den รผblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts รผberhaupt noch realistische Tรคtigkeiten gibt.

Wichtig ist, dass alle Einschrรคnkungen im Antrag und bei Begutachtungen benannt und mit Befunden belegt werden. Wenn die Rentenversicherung eine Rente ablehnt, ohne eine wirklich passende Tรคtigkeit konkret zu benennen, kann sich ein Widerspruch lohnen โ€“ gerade dann, wenn mehrere qualitative Einschrรคnkungen zusammen eine sehr enge Restleistungsfรคhigkeit ergeben.

EM-Rente ist mehr als nur eine Stundenfrage

Die Frage, ob jemand eine Erwerbsminderungsrente erhรคlt, lรคsst sich nicht auf eine einfache Stundengrenze reduzieren. Wer weniger als sechs Stunden tรคglich arbeiten kann, hat zwar bessere Chancen, eine Rente zu bekommen. Doch auch bei voller zeitlicher Belastbarkeit kรถnnen schwere spezifische oder sich summierende qualitative Einschrรคnkungen dazu fรผhren, dass der allgemeine Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist.

Entscheidend ist immer die Gesamtsituation: die Art der gesundheitlichen Beeintrรคchtigungen, die beruflichen Mรถglichkeiten, die tatsรคchlichen Bedingungen des Arbeitsmarkts und die Frage, ob die Rentenversicherung eine realistische Vergleichstรคtigkeit benennen kann. Betroffene sollten ihre Einschrรคnkungen sorgfรคltig dokumentieren, medizinische Unterlagen beifรผgen und bei Ablehnungen nicht vorschnell aufgeben, sondern prรผfen, ob ein Widerspruch Aussicht auf Erfolg haben kann.