Ein neuer Bericht zeichnet ein düsteres Bild der Hamburger Verwaltungslandschaft. Tausende Problemberichte von Sozialberatungsstellen legen massive Zugangshürden und Mängel bei zentralen Behörden offen. Besonders das Jobcenter Hamburg und das Amt für Migration stehen massiv in der Kritik.
Bürgerinnen und Bürger kämpfen offenbar oft vergeblich um Erreichbarkeit, zeitnahe Leistungen und respektvollen Umgang. Die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege Hamburg (AGFW) fordert dringende Reformen, um die Durchsetzung sozialer Rechte sicherzustellen.
Inhaltsverzeichnis
Behördenleistung wurde dokumentiert – Ergebnisse alarmierend
Die AGFW hat mit ihrem “Monitor Verwaltungshandeln” eine Initiative gestartet, um systematisch Hürden beim Zugang zu Behördenleistungen zu erfassen. Seit Oktober 2023 dokumentieren Mitarbeitende von Beratungsstellen kritisches Verwaltungshandeln online. Das Ziel: strukturelle Schwachstellen aufdecken und gemeinsam mit den Behörden eine bürgerfreundlichere Verwaltung entwickeln. Die nun vorliegenden Ergebnisse des ersten Berichtszeitraums (11.10.2023 bis 31.12.2024) sind alarmierend.
Insgesamt gingen 1.266 Meldungen mit erschütternden 3.724 einzelnen Problemanzeigen ein. Diese Zahlen, obwohl nicht repräsentativ im statistischen Sinne, deuten auf tiefgreifende Schwierigkeiten hin, mit denen viele Hamburgerinnen und Hamburger konfrontiert sind, wenn sie auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
Hauptproblemzonen: Migrationsamt und Jobcenter im Fokus
Die Auswertung der Problemanzeigen zeigt eine massive Konzentration auf zwei Behörden:
1. Amt für Migration (Abteilung Auszahlung Asylbewerberleistungen):
Mit 1.611 Anzeigen (43 % aller Meldungen) steht diese Abteilung an trauriger Spitze. Sie ist für viele Schutzsuchende die erste Anlaufstelle für existenzsichernde Leistungen. Die gemeldeten Probleme hier wiegen besonders schwer.
2. Jobcenter team.arbeit.hamburg:
Dicht dahinter folgt das Jobcenter mit 1.573 Anzeigen (42 %). Als zuständige Stelle für das Bürgergeld ist es für hunderttausende Menschen in Hamburg relevant. Die Schwierigkeiten hier betreffen also eine breite Bevölkerungsschicht.
Zusammengenommen entfallen somit 85 Prozent aller erfassten Probleme auf diese beiden Ämter. Andere Behörden wie die Fachämter für Grundsicherung und Soziales (8 %), Hamburg Service vor Ort Ausländerangelegenheiten (3 %), die Familienkasse (2 %) und die Fachstellen für Wohnungsnotfälle (2 %) wurden deutlich seltener genannt, was die Problemlast bei Migration und Jobcenter noch stärker hervorhebt.
Kernproblem Erreichbarkeit: Telefonisch und persönlich oft kein Durchkommen
Das mit Abstand größte Ärgernis für die Bürgerinnen und Bürger ist die mangelnde Erreichbarkeit der Behörden. Fast die Hälfte aller 3.724 Problemanzeigen (47 %, 1.782 Einträge) fällt in diese Kategorie. Menschen scheitern oft daran, überhaupt Kontakt aufzunehmen oder notwendige Informationen zu erhalten.
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Migrationsamt besonders schlecht erreichbar
Über die Hälfte (53 %) der Erreichbarkeitsprobleme betrifft das Amt für Migration. Bürgerinnen und Bürger berichten massenhaft, dass das Amt während der offiziellen Sprechzeiten telefonisch nicht erreichbar ist (26 % der Meldungen zum Amt). Viele warten zudem vergeblich auf Rückmeldungen: In 23 % der Fälle gab es nach 14 Tagen keine Auskunft zum Sachstand, in 22 % keine Bestätigung, dass ein Anliegen überhaupt bearbeitet wird.
Persönliche Vorsprachen sind oft unmöglich (18 %), und wer es doch schafft, muss teils über vier Stunden warten (7 %). Praxisbeispiel: Eine Jugendhilfe-Stelle berichtet von einem Fall, bei dem online gebuchte Termine verweigert wurden und Unterlagen trotz E-Mail-Versand nicht auffindbar waren.
Jobcenter ebenfalls schwer zugänglich
Auch beim Jobcenter klagen viele über Nichterreichbarkeit per Telefon (32 % der Meldungen zum Jobcenter). Vereinbarte Rückrufe bleiben häufig aus (19 %). Informationen zum Bearbeitungsstand (18 %) oder zum Sachstand (13 %) sind schwer zu bekommen. Persönliche Termine mit Sachbearbeitern werden oft verweigert (11 %). Praxisbeispiel: Eine Migrationsberatungsstelle schildert, wie Ratsuchende tagelang vom Sicherheitspersonal abgewiesen wurden.
Andere Behörden ebenfalls betroffen
Dieses Muster zieht sich, wenn auch in geringerem Ausmaß, durch andere Behörden wie die Fachämter Grundsicherung und Soziales und Hamburg Service vor Ort Ausländerangelegenheiten. Die mangelnde Erreichbarkeit führt zu Frust, Verzögerungen und kann existenzielle Nöte verschärfen. Für Betroffene bedeutet dies oft, im Ungewissen gelassen zu werden, Fristen zu versäumen oder dringende Anliegen nicht klären zu können.
Chaos bei Unterlagen: Verloren, ignoriert, doppelt angefordert
Ein weiteres massives Problemfeld ist der Umgang mit Unterlagen. 22 Prozent aller Meldungen (834 Einträge) beziehen sich hierauf. Dokumente verschwinden scheinbar im Verwaltungsapparat, was zu erheblichen Verzögerungen und Problemen führt.
Jobcenter als Spitzenreiter bei Unterlagen
Mehr als die Hälfte (54 %) der Probleme mit Unterlagen wurden beim Jobcenter gemeldet. Erschreckende 61 Prozent dieser Meldungen berichten, dass bereits eingereichte Unterlagen angeblich nicht vorliegen oder erneut angefordert wurden. Die persönliche Abgabe wird oft verweigert (12 %), und selbst ein geforderter Eingangsstempel wird nicht immer erteilt (6 %).
Praxisbeispiel: Eine Wohnungsnotfallhilfe berichtet von einem Fall, bei dem digital eingereichte Unterlagen trotz ID-Nachweis als nicht existent behandelt wurden, was zur Mittellosigkeit führte. Eine andere Stelle schildert, dass von einer deutschen Staatsbürgerin wiederholt ein Aufenthaltstitel verlangt wird.
Migrationsamt ebenfalls problematisch
Auch beim Amt für Migration gehen Unterlagen verloren oder werden ignoriert (27 % der Meldungen zum Amt). Oft erhalten Antragstellende keine Eingangsbestätigung (36 %), und die persönliche Abgabe wird erschwert (22 %). Anträge werden teils nicht an zuständige Stellen weitergeleitet (8 %).
Auch bei den Fachämtern Grundsicherung und Soziales und der Familienkasse gehen Unterlagen verloren oder werden erneut angefordert. Bei den Fachstellen für Wohnungsnotfälle werden sogar vorgelegte Atteste und Schreiben von Sozialarbeitern angezweifelt.
Wenn Unterlagen verschwinden oder ignoriert werden, hat das gravierende Folgen: Bearbeitungszeiten verlängern sich, Leistungen werden nicht oder verspätet gezahlt, und im schlimmsten Fall droht der Verlust der Wohnung oder der Krankenversicherung. Für die Betroffenen bedeutet dies enorme Unsicherheit und zusätzlichen Stress.
Geldleistungen und Bearbeitungszeiten: Langes Warten auf das Nötigste
Eng verknüpft mit den Problemen bei Erreichbarkeit und Unterlagen sind Verzögerungen bei Geldleistungen und Bearbeitungszeiten. Jeder fünfte Eintrag (20 %, 737 Meldungen) im Monitor bezieht sich auf dieses Problemfeld. Menschen müssen oft Monate auf ihnen zustehende Leistungen warten.
Migrationsamt mit extremen Verzögerungen
Fast die Hälfte (48 %) der Meldungen zu Geldleistungen betrifft das Amt für Migration. Besonders schockierend: In 34 Prozent dieser Fälle warten Leistungsberechtigte drei Monate oder länger auf ihre Asylbewerberleistungen, selbst nachdem alle Unterlagen vollständig eingereicht wurden. Weitere 12 Prozent warten zwei Monate oder länger.
Praxisbeispiel: Eine Familie wartete sechs Monate auf einen Aufenthaltstitel, der Vater verlor seinen Job, das Amt stellte Zahlungen ein, das Jobcenter lehnte ab – die Familie war drei Monate ohne Geld. In einem anderen Fall waren Neugeborene monatelang nicht krankenversichert.
Jobcenter: Probleme bei Vorschüssen und Dauer
Beim Jobcenter (40 % der Meldungen zu Geldleistungen) gibt es massive Probleme bei der Gewährung von Vorschussleistungen in Notlagen. Anträge darauf werden oft trotz offensichtlicher Berechtigung nicht bewilligt (17 %) oder nicht fristgerecht (innerhalb von 7 Tagen) bearbeitet (21 %).
Auch reguläre Leistungen lassen auf sich warten:
29 Prozent warten einen Monat oder länger, 9 Prozent zwei Monate oder länger und 6 Prozent sogar drei Monate oder länger. Praxisbeispiel: Einer schwangeren Frau wurde trotz Leistungsbescheid der Versicherungsstatus nicht an die Krankenkasse gemeldet, sie war zwei Monate unversichert.
Bei den Fachämtern Grundsicherung und Soziales warten Betroffene ebenfalls lange: Jeweils 26 Prozent der Meldungen berichten von Wartezeiten von zwei bzw. drei Monaten oder länger.
Diese Verzögerungen stürzen Menschen in existenzielle Krisen. Mieten können nicht gezahlt werden, Strom wird abgestellt, Lebensmittel fehlen. Das Warten auf Geld bedeutet für viele pure Not und Verzweiflung.
Respektlosigkeit und fehlende Unterstützung: Menschlichkeit bleibt auf der Strecke
Neben den organisatorischen Mängeln dokumentiert der Monitor auch erschreckende Fälle von respektlosem Verhalten und fehlender Unterstützung durch Behördenmitarbeitende. Obwohl nur 3 Prozent aller Meldungen (121 Einträge) explizit das Thema “Respekt” betreffen, sind die geschilderten Vorfälle gravierend und deuten auf ein tieferliegendes Problem im Umgang mit Hilfesuchenden hin.
Jobcenter sind beim Thema Respekt besonders auffällig
Über 60 Prozent der Respektlosigkeits-Meldungen beziehen sich auf das Jobcenter. Berichtet wird von Beleidigungen (“fauler Sack”, “Sie sind dumm”), rassistischen Äußerungen (“Was machen Sie hier? Gehen Sie zurück in die Ukraine”, “Was wollt ihr denn hier?”), Drohungen (Sanktionen angedroht, weil Bewerbungsgespräch nicht sofort unterbrochen wurde) und herablassendem Verhalten (Kundin mit deutscher Staatsbürgerschaft wird ständig nach Aufenthaltstitel gefragt, Unterwäsche bei Wohnungsbegehung kontrolliert).
Praxisbeispiel: Eine junge Frau erlitt nach lautstarker und einschüchternder Behandlung am Infotresen einen Nervenzusammenbruch.
Migrationsamt ebenfalls betroffen: Auch im Amt für Migration kommt es zu respektlosem Verhalten (18 % der Respekt-Meldungen).
Mitarbeitende sprechen Betroffenen Gewalterfahrungen ab, machen diskriminierende Aussagen aufgrund der Herkunft, unterstellen Leistungsbetrug oder behandeln Menschen sexistisch und beschämend. Security-Personal äußert sich abfällig oder “witzig” über das Verschleppen von Wartenden.
Schlechte Kommunikation – Fehlendes Dolmetschen
Ein spezifisches Problem, das die Kommunikation massiv erschwert, ist das Fehlen von Dolmetscher\innen. 60 Meldungen (2 % aller Einträge) betreffen dieses Thema. Hauptsächlich tritt dies beim Amt für Migration auf (67 % der Dolmetsch-Meldungen), aber auch beim Jobcenter (24 %) und den Fachstellen für Wohnungsnotfälle. Wenn Verständigung unmöglich ist, können Rechte nicht wahrgenommen und Anliegen nicht geklärt werden.
Solche Erfahrungen zerstören Vertrauen und können traumatisierend wirken. Wer Hilfe sucht und stattdessen auf Ablehnung, Misstrauen oder gar Beleidigungen stößt, wird zusätzlich belastet und möglicherweise davon abgehalten, zustehende Leistungen erneut zu beantragen.
Digitale Hürden statt Erleichterung
Die Digitalisierung von Behördenprozessen soll eigentlich den Zugang erleichtern. Der Monitor zeigt jedoch, dass digitale Angebote wie `jobcenter.digital` oder das Hamburg Service Portal oft neue Barrieren schaffen. 5 Prozent aller Meldungen (186 Einträge) betreffen digitale Zugänge.
Jobcenter.digital – Wenig benutzerfreundlich
88 Prozent der digitalen Probleme wurden beim Jobcenter gemeldet. Fast die Hälfte (44 %) der Meldungen hierzu kritisiert die mangelnde Benutzerfreundlichkeit von `jobcenter.digital. In 40 Prozent der Fälle mussten Beratungsstellen bei der Bedienung helfen. Technische Fehler verhindern das Absenden von Anträgen oder Nachrichten (10 %). Praxisbeispiel: Ein digital gestellter Antrag war nach Änderung der Zugangsdaten nicht mehr auffindbar.
Auch das Portal des Hamburg Service (12 % der digitalen Probleme) wird als nicht benutzerfreundlich wahrgenommen. Technische Fehler bei der Terminbuchung oder beim Absenden von Dokumenten werden ebenfalls bemängelt.
Wenn digitale Werkzeuge kompliziert, fehleranfällig oder nicht barrierefrei sind, schließen sie Menschen aus, statt ihnen zu helfen. Insbesondere Personen ohne digitale Affinität, mit Sprachbarrieren oder ohne entsprechende Endgeräte sind hier benachteiligt.
Alarmierende Fallbündelungen: Wenn alles schiefläuft
Besonders besorgniserregend sind die 38 Fälle, in denen sich mehrere schwerwiegende Probleme bei einer einzigen Person oder Familie bündeln. Diese “alarmierenden Bündelungen” treten am häufigsten beim Amt für Migration (19 Fälle) und dem Jobcenter (13 Fälle) auf.
Ein Beispiel vom Amt für Migration: Eine Familie wartet monatelang auf Geld und Aufenthaltstitel, der Vater verliert den Job, die Familie ist mittellos, die Behörde ist telefonisch nicht erreichbar, Termine sind nicht buchbar. Ein anderes Beispiel: Eine Person benötigt dringend einen Behandlungsschein, niemand reagiert, keine Vorsprache möglich, Leistungen bleiben drei Monate aus, selbst bewilligtes Geld wird nicht gezahlt.
Vom Jobcenter wird berichtet: Mehrfach eingereichte Unterlagen liegen angeblich nicht vor, keine Eingangsbestätigung, keine Rückmeldung, keine Erreichbarkeit, Jobcenter.digital nicht nutzbar, Antrag auf Vorschuss abgelehnt, Leistungen bleiben drei Monate aus.
Diese Fälle zeigen exemplarisch, wie eine Kaskade von Verwaltungsproblemen Menschen in absolute Notlagen bringen kann. Hier versagt das System auf ganzer Linie und lässt die Betroffenen im Stich.
Systemisches Versagen mit gravierenden Folgen
Der 2. Report des AGFW Monitors Verwaltungshandeln legt schonungslos offen, dass der Zugang zu sozialen Rechten in Hamburg für viele Menschen massiv erschwert ist. Die schiere Menge und die Schwere der gemeldeten Probleme, insbesondere bei Jobcenter und Migrationsamt, deuten auf tiefgreifende strukturelle Mängel hin.
Es geht hier nicht um Einzelfälle oder gelegentliche Pannen. Es geht um systematisches Versagen bei Erreichbarkeit, Bearbeitungszeiten, dem Umgang mit Unterlagen und leider auch im menschlichen Umgang. Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend: finanzielle Not, Wohnungsverlust, fehlende Krankenversicherung, psychische Belastung und der Verlust des Vertrauens in staatliche Institutionen.
Die AGFW Hamburg fordert zu Recht, dass diese Zustände nicht hingenommen werden dürfen. Es braucht dringend eine ehrliche Analyse der Ursachen und grundlegende Reformen in den betroffenen Behörden. Dazu gehören verbesserte Erreichbarkeit, effizientere Prozesse, eine verlässliche digitale Infrastruktur und vor allem eine Verwaltungskultur, die den Menschen mit Respekt begegnet und sich als Dienstleister für die Bürgerinnen und Bürger versteht.
Nur so kann sichergestellt werden, dass soziale Rechte nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern auch tatsächlich bei denjenigen ankommen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Jeder Hamburger und jede Hamburgerin sollte darauf vertrauen können, in Notlagen schnell, unbürokratisch und respektvoll Hilfe zu erhalten. Davon scheint die Realität in Teilen der Hamburger Verwaltung derzeit weit entfernt.