Bürgergeld: Jobcenter muss Kosten für Besuche des inhaftierten Lebensgefährten übernehmen

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Die Fahrkosten für Haftbesuche zum nichtehelichen Partner können im Einzelfall vom Jobcenter als Sonderbedarf zu übernehmen sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn die angefallenen erforderlichen Kosten erheblich sind.

Eine Ehe ist für einen Anspruch auf einen Mehrbedarf aber nicht erforderlich. Es müsse aber bereits vor Haftantritt eine besondere Nähe zu dem Partner bestanden haben.

Die Inhaftierung des Lebensgefährten stellt eine „grundrechtlich beachtliche Trennungssituation“ dar (Orientierungssatz Detlef Brock) So entschieden vom BSG, Urteil v. 26.01.2022 – B 4 AS 3/21 R –

Nicht nur einmalige Aufwendungen und Anders nicht gedeckte Aufwendungen zum Besuch eines nichtehelichen Lebensgefährten können in einer Sondersituation einen Härtefallmehrbedarf begründen.

Die vom zu gewährleistenden Existenzminimum umfasste Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ist nicht von vornherein auf die Beziehungspflege zu solchen Personen beschränkt, deren Verhältnis dem Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG unterfällt oder familienrechtlich geregelt ist ( Leitsatz BSG ).

In welchem Umfang Besuche einer in diesem Sinne nahestehenden Person in Haft im Rahmen von § 21 Abs 6 SGB II zu berücksichtigen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

Wie etwa der konkreten Beziehungssituation vor und während der unfreiwilligen Trennung, anderen Kontaktmöglichkeiten, der Entfernung und den anfallenden Kosten.

Ein Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter (einschließlich der Leistungen anderer Sozialleistungsträger; vgl BSG vom 20.1.2016 – B 14 AS 8/15 R -)

Sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs 6 Satz 2 SGB II). Diese Definition ist nicht abschließend (“insbesondere”).

Daran gemessen ist der geltend gemachte Mehrbedarf dem Grunde nach unabweisbar, soweit er der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums dient.

Existenzminimum umfasst auch zwischenmenschliche Beziehungen

Denn das zu gewährleistende Existenzminimum umfasst auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen (BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 ).

Es ist nicht nicht von vorneherein auf die Beziehungspflege zu solchen Personen beschränkt, deren Verhältnis dem Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG unter fällt oder familienrechtlich geregelt ist (vgl BSG vom 28.11.2018 – B 14 AS 48/17 – ).

Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums – Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen

Wenn ein Mehrbedarf wegen zwischenmenschlicher Beziehungspflege geltend gemacht wird, dann bedarf es aufgrund des strengen Tatbestandsmerkmals der Unabweisbarkeit und der Begrenzung des Existenzminimums auf das zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt Erforderliche (BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 ) aber eines besonderen Näheverhältnisses zu der von der Beziehungspflege betroffenen Person.

Es muss eine tatsächlich gelebte Beziehung von besonderer Nähe verlangt werden, die durch wechselseitige Verantwortlichkeit füreinander sowie Rücksichtnahme – und Beistandsbereitschaft geprägt ist und deshalb für die individuelle personale Existenz herausgehobene Bedeutung hat.

Diese Voraussetzung kann auch erfüllt sein

Diese Voraussetzung gilt auch als erfüllt, wenn keine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft iS des § 7 Abs 3 Nr 3 Buchst c SGB II vorliegt, aber die beiden betroffenen Personen in einer ähnlich engen, exklusiven und gegenüber anderen zwischenmenschlichen Beziehungen der leistungsberechtigten Person prioritären Beziehung gelebt haben.

Die Inhaftierung des Lebensgefährten stellt eine grundsicherungsrechtlich beachtliche Trennungssituation dar (vgl BSG vom 28.11.2018 – B 14 AS 48/17 R – )

Weil die Bedarfslage insofern dem Einfluss des Besuchers und des zu Besuchenden entzogen ist.

Ein Verweis auf Kontakt ausschließlich fernmündlich oder schriftlich aufrechtzuerhalten ist nicht zulässig – so aber das Jobcenter

Entgegen der Auffassung des Jobcenters kann die Lebensgefährtin nicht darauf verwiesen werden, den Kontakt zu ihrem Lebensgefährten ausschließlich fernmündlich oder schriftlich aufrechtzuerhalten.

Im konkreten Fall waren auch aufgrund der gesundheitlichen Situation der Klägerin zwei Besuche pro Monat noch dem von Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG umfassten Bereich des unabdingbaren Existenzminimums gedeckt.

Wann besteht ein besonderer Bedarf bei Fahrkosten

Die dadurch angefallenen Fahrkosten stellen auch einen besonderen Bedarf dar, weil es nicht um die im Regelbedarf berücksichtigten üblichen Fahrten im Alltag geht, sondern um eine spezielle Situation, die darüber hinaus zusätzliche Fahrten erforderte (vgl. auch BSG, Urteil vom 4. Juni 2014 – B 14 AS 30/13 R- ).

Ein besonderer Bedarf besteht nur, wenn die Bedarfslage eine andere ist, als sie bei typischen Empfängern von Grundsicherungsleistungen vorliegt (BSG vom 4.6.2014 – B 14 AS 30/13 R – )

Ein besonderer Bedarf der Höhe nach liegt dann vor, wenn er seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht, weil es sich um eine individuelle Konstellation handelt, die sich einer an typischen Bedarfen orientierten Pauschalierung der Leistungen entzieht., so das Bundessozialgericht .

Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock

Folgende Fallgestaltungen sind denkbar und wurden durch die Rechtsprechung bestätigt, aufgearbeitet von Detlef Brock

1. SG Hannover, Urteil vom 01.11.2016, S 54 AS 697/16 ( Aufwendungen für Besuchsfahrten in eine Justizvollzugsanstalt zur Wahrnehmung eines Umgangsrechts mit dem Stiefvater stellen im Rahmen der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende für die Stiefkinder einen Mehrbedarf dar und sind deshalb vom Grundsicherungsträger zusätzlich zur Regelleistung zu übernehmen, wenn es sich bei dem Stiefvater um eine enge, den leiblichen Vater ersetzende Bezugsperson des Stiefkindes handelt und der Umgang dem Wohl des Kindes dient);

2. SG Braunschweig, Urteil vom 09.04.2014 – S 49 AS 2184/12 ( Jobcenter muss Kosten für Besuchsfahrten zum inhaftierten Sohn übernehmen);

3. Bayerisches LSG, Beschluss vom 10.07.2012 – L 7 AS 963/10 ( Fahrtkosten zum Besuch des inhaftierten Kindes);

4. SG Ulm, Beschluss vom 23. Oktober 2013 – S 8 AS 3164/13 ER – ( Für die Ausübung des Umgangsrechts der Gattin und der Kinder mit ihrem an einem weit entfernten Ort inhaftierten Vater besteht ein besonderer, unabweisbarer und fortlaufend fällig werdender Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II )

5. SG Reutlingen, Vergleich vom 27. Februar 2013 – S 2 AS 1515/12 ( unveröffentlicht) – Bei regelmäßig durchgeführten Besuchsfahrten von Gattin und Kind zum in der Justizvollzugsanstalt einsitzenden Vater handelt es sich ebenfalls um einen Bedarf, der dem JobCenter gegenüber gemäß § 21 Abs. 6 SGB II geltend gemacht werden kann.

Was ist beim Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II zu beachten?

1. Zur Beurteilung, ob ein geltend gemachter Bedarf als zur Sicherung des Existenzminimums angesehen werden kann, ist auf den Standard der herrschenden Lebensgewohnheiten unter Berücksichtigung einfacher Verhältnisse abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 26. Januar 2020 – B 4 AS 3/21 R -).

2. Ein Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter (einschließlich der Leistungen anderer Sozialleistungsträger, vgl. BSG, Urteile vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R – und vom 20.01.2016 – B 14 AS 8/15 R -) sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II).

Diese Definition ist nicht abschließend (“insbesondere”).

3. Das Merkmal der Unabweisbarkeit betrifft sowohl den Aspekt des Bedarfs als solchen als auch die Frage der anderweitigen Bedarfsdeckung (BSG, Urteil vom 12.05.2021 – B 4 AS 88/20 R -).

4. Erheblich ist ein zusätzlicher Bedarf dann, wenn er von einem durchschnittlichen Bedarf in nicht nur unbedeutendem wirtschaftlichen Umfang abweicht (BSG, Urteile vom 04.06.2014 – B 14 AS 30/13 R – und vom 11.02.2015 – B 4 AS 27/14 R -.). Das hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab.

5. Als Maßstab für die Beurteilung ist heranzuziehen die Regelleistung insgesamt und der darin enthaltene Anteil für Aufwendungen des jeweils betroffenen Bedarfs (vgl. BSG, Urteile vom 04.06.2014 – B 14 AS 30/13 R – und vom 18.11.2014 – B 4 AS 4/14 R – ).

Wann müssen nach der Rechtsprechung Jobcenter diesen Sonderbedarf im Rahmen der Kontaktpflege übernehmen?

1. Fahrtkosten für die Besuche des erwachsenen Sohnes zur erkrankten Mutter ins Klinikum muss das Jobcenter als Härtefallmehrbedarf übernehmen ( LSG BW, v. 04.02.2020 – L 2 AS 3963/19 ER-B.

2. Fahrtkosten, die dem Vater anlässlich seiner Fahrten zu seinem in einem Fußballinternat wohnenden Sohn entstehen, müssen vom Jobcenter als Härtefallmehrbedarf übernommen werden.

Mehr dazu hier in meinem Artikel:  https://www.gegen-hartz.de/urteile/jobcenter-buergergeld-mehrbedarf-fuer-besuchsfahrten-zur-erkrankten-mutter-im-pflegeheim