Mitarbeiter eines Jobcenters dürfen die Wohnräume eines Frauenhauses nicht betreten bzw. durchsuchen – verfassungswidrig entschied das Sozialgericht Karlsruhe!
Denn § 17 Abs. 2 SGB II stellt keine gesetzliche Ermächtigungslage für Träger der Grundsicherung nach dem SGB II/ Jobcenter dar, um Wohnräume in Frauenhäusern zu durchsuchen, so der Inhalt des aktuell veröffentlichten Urteils der 12. Kammer des SG Karlsruhe ( Urteil vom 17.09.2024 – S 12 AS 1843/22 – ).
Die Wohnräumlichkeiten eines Frauenhauses sind von Art. 13 GG geschützt. Ohne einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss dürfen Jobcentermitarbeiter nicht die Wohnräume eines Frauenhauses betreten.
Aufstellung der inhaltliche Anforderungen an Vereinbarungen nach § 17 Abs. 2 SGB II vom 7. Senat des LSG NRW sind verfassungswidrig, so ausdrücklich die 12. Kammer.
Die vom 7. Senat des LSG NRW ( Urteil vom 16.02.2017 – L 7 AS 1299/15-) richterrechtlich ersonnenen vermeintlich obligatorischen Inhaltsanforderungen an Vereinbarungen zwischen Jobcentern und Frauenhäusern sind ausnahmslos entweder verfassungswidrig oder überflüssig.
Denn die Rechtsprechung des LSG NRW vom 16.02.2017 im Verfahren L 7 AS 1299/15 hält selbst einfachsten verfassungsrechtlichen Erwägungen nicht ansatzweise stand.
Offenkundig existiert die landessozialgerichtlich postulierte Pflicht des Jobcenters nicht, sich gegenüber dem Frauenhaus in seinem örtlichen Zuständigkeitsbereich im Wege der Vereinbarung nach § 17 Abs. 2 SGB II ein Zutrittsrecht für Jobcentermitarbeiter zum Zwecke der Qualitätsprüfung zu verschaffen.
Gerade Frauen, die vor häuslicher Gewalt in einer fremden Umgebung Zuflucht nehmen, sind besonders schutzbedürftig in Bezug auf Ihr Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 des Grundgesetzes.
Selbstverständlich dürfte ein Jobcentermitarbeiter daher ohne einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss nicht die Wohnräume eines Frauenhauses betreten.
Ein LSG darf Jobcenter nicht auferlegen, derartig eklatant verfassungswidrige Zutrittsrechte in öffentlich-rechtliche Vereinbarungen aufnehmen zu müssen
Erst recht darf ein Landessozialgericht Jobcentern nicht auferlegen, derartig eklatant verfassungswidrige Zutrittsrechte in öffentlich-rechtliche Vereinbarungen aufnehmen zu müssen. Derartige Vereinbarungen zulasten der Unverletzlichkeit der Wohnräume der Frauen und Kinder in Frauenhäusern wären evident verfassungswidrig.
Dazu die 12. Kammer des SG Karlsruhe:
“Der Grundrechtsbegriff der „Wohnung“ ist weit auszulegen, denn er schützt diejenige räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet (BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 – 1 BvR 370/07 –, BVerfGE 120, 274-350, Rn. 4), wobei jeder Grundrechtsträger des Art. 13 Abs. 1 GG ist, der Bewohner eines Wohnraums ist, und zwar unabhängig davon, auf welchen Rechtsverhältnissen die Nutzung des Wohnraums beruht (Burghart in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz Kommentar, 92. Lieferung, 5/2024, Art. 13 GG, Rn. 14).
Die Wohnräumlichkeiten eines Frauenhauses sind also von Art. 13 GG geschützt. Art. 13 Abs. 1 GG enthält das an Träger der öffentlichen Gewalt gerichtete grundsätzliche Verbot, gegen den Willen des Wohnungsinhabers in die Wohnung einzudringen (BVerfG, Urteil vom 3. März 2004 – 1 BvR 2378/98 –, BVerfGE 109, 279-391).
Art. 13 Abs. 1 GG verbürgt dem Einzelnen mit Blick auf die Menschenwürde sowie im Interesse der Entfaltung der Persönlichkeit einen elementaren Lebensraum, in den nur unter den Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 und 3 GG eingegriffen werden darf (BVerfG, Beschluss vom 12. März 2019 – 2 BvR 675/14 –, BVerfGE 151, 67-97).
Art. 13 GG gewährt einen absoluten Schutz des Verhaltens in den Wohnräumen, soweit es sich als individuelle Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung darstellt.
Für diese benötigt jeder Mensch ein räumliches Substrat, in dem er für sich sein und sich nach selbstgesetzten Maßstäben frei entfalten, also die Wohnung bei Bedarf als „letztes Refugium“ zur Wahrung seiner Menschenwürde nutzen kann (BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 916/11 –, BVerfGE 156, 63-182).”
Wenn (nicht nur Büroräume, sondern gerade auch) die Wohnräume in Frauenhäusern untergebrachter Frauen und Kinder vom Personal des Jobcenters zu Inspektionszwecken betreten werden sollen, stellte dieser Grundrechtseingriff verfassungsrechtlich eine „Durchsuchung“ im Sinne von Art. 13 Abs. 2 GG dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1971 – 1 BvR 280/66 –, BVerfGE 32, 54-77).
Nach dieser Verfassungsvorschrift dürfen Wohnungsdurchsuchungen aber nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden.
§ 17 Abs. 2 SGB II stellt keine gesetzliche Ermächtigungslage für Träger der Grundsicherung nach dem SGB II dar, um Wohnräume in Frauenhäusern zu durchsuchen
Diese Norm verletzt Art. 20 GG
Denn eine derart extensive Auslegung der Norm wäre nicht verfassungskonform. Sie verletzte Art. 20 GG. Sie verstieße nämlich gegen das Demokratieprinzip, gegen den Parlamentsvorbehalt, das Bestimmtheitsgebot und die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. September 2018 – 2 BvF 1/15 –, BVerfGE 150, 1-163).
Weder § 17 Abs. 2 SGB II noch ein sonstiges Parlamentsgesetz gestatten es Mitarbeitern des Jobcenters, Frauenhäuser für Qualitätsprüfungen zu betreten, bedürfte es hierfür also (selbst im hypothetischen Ausnahmefall einer „Gefahr im Verzug“ immer) auch eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses, um die Wohn- und Gemeinschaftsräume eines Frauenhauses als Jobcenter betreten zu dürfen.
Allein aufgrund einer im Wege der Vereinbarung nach § 17 Abs. 2 SGB II vorab generell erteilten Einwilligung des Frauenhauses dürften hingegen unter keinen Umständen die Wohnräume der Frauenhäuser vom Jobcenter betreten werden, bis ein Richter eine derartige Durchsuchung unter Berücksichtigung der Grundrechte der Frauen anordnet.
Nach alldem steht es also wegen Art. 13 Abs. 1 und 2 GG nicht in der Rechtsmacht von Jobcentern und Frauenhäusern, über die Köpfe der Bewohnerinnen des Frauenhauses hinweg, zu vereinbaren, dass deren Wohnräume von Jobcentermitarbeitern betreten werden dürfen.
Ein derartiger hypothetischer Vereinbarungsinhalt zulasten Dritter wäre demnach völlig ungeeignet, eine Qualitätsprüfung iSd § 17 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in verfassungskonformer Weise zu ermöglichen.
Eine ungeeignete Regelung zur Einräumung eines wegen der Grundrechte Dritter ohnehin nicht einräumbaren Zutrittsrechts darf und muss das Jobcenter mit dem Frauenhaus in seinem Zuständigkeitsbereich aber nicht vereinbaren.
Entgegen der verfassungswidrigen Rechtsprechung des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen trifft kein Jobcenter einer Zufluchtskommune die Obliegenheit, mit dem örtlichen Frauenhaus ein behördliches Zutrittsrecht für die Wohnräume in jene Vereinbarung nach § 17 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 36a SGB II aufzunehmen, welche die Übernahme der Unterbringungs- und Betreuungskosten durch Jobcenter für Frauenhäuser regelt.
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Detlef Brock ist Redakteur bei Gegen-Hartz.de und beim Sozialverein Tacheles e.V. Bekannt ist er aus dem Sozialticker und später aus dem Forum von Tacheles unter dem Namen “Willi2”. Er erstellt einmal wöchentlich den Rechtsticker bei Tacheles. Sein Wissen zum Sozialrecht hat er sich autodidaktisch seit nunmehr 17 Jahren angeeignet.