Dรผrfen arme Menschen auf der Straรe betteln? Ja sagt der Europรคische Gerichtshof fรผr Menschenrechte (EGMR) in Straรburg, wenn gewichtige Grรผnde vorliegen. Das hohe Gericht hat mit seinem Urteil faktisch aus Betteln ein Menschenrecht erstellt. Eine Betroffene klagte auf Entschรคdigung.
In groรer Not ist Betteln ein Menschenrecht
Der EGMR hat faktisch ein Menschenrecht auf Betteln geschaffen. Fรผr schutzbedรผrftige Menschen, die nur so ihre Grundbedรผrfnisse befriedigen kรถnnen, kann das Betteln ein โder Menschenwรผrde innewohnendes Recht” sein, urteilte der EGMR in Straรburg (Az.: 14065/15).
Er gab damit einer in der Schweiz lebenden Roma aus Rumรคnien recht und sprach ihr eine Entschรคdigung von 922 Euro zu.
Der konkrete Fall
Die Klรคgerin lebt in Genf. Sie ist Analphabetin und ist erwerbslos. Weil sie keinerlei soziale Unterstรผtzung erhielt, war sie fรผr ihren Lebensunterhalt auf Betteln angewiesen.
Wie in gut der Hรคlfte der Schweizer Kantone ist dies allerdings auch in Genf verboten. Mehrfach wurde sie kontrolliert und musste auf die Polizeiwache. Bei einer Leibesvisitation gefundene 16,75 Franken (15,50 Euro) wurden eingezogen.
Geldstrafe wegen Betteln
Insgesamt brummten die Behรถrden ihr Geldbuรen von zuletzt insgesamt 500 Schweizer Franken (464 Euro) auf. Weil sie nicht zahlen konnte, musste sie fรผr fรผnf Tage ins Gefรคngnis.
Wie nun der EGMR entschied, hat die Schweiz dadurch das Recht der Frau auf Privat- und Familienleben verletzt. Dabei rรผgten die Straรburger Richter insbesondere, dass die Regelung in Genf bettelnde Personen โpauschal” bestrafe.
Ein solches โvรถlliges Verbot einer bestimmten Art von Verhalten” sei eine โradikale Maรnahme”. Es bedรผrfe daher einer โstarken Rechtfertigung” und unterliege โeiner besonders strengen Prรผfung durch die Gerichte”.
Die Beschwerdefรผhrerin stamme aus einer extrem armen Familie und habe keine Sozialleistungen erhalten. Insgesamt habe sie sich โin einer eindeutig schutzbedรผrftigen Situation” befunden.
Daher, so der EGMR, habe sie โdas der Menschenwรผrde innewohnende Recht (gehabt), ihre Notlage zu vermitteln und zu versuchen, ihre Grundbedรผrfnisse durch Betteln zu befriedigen”.
Faktisch eine Gefรคngnisstrafe fรผr das Betteln
Fรผr ihre Verstรถรe gegen das Bettelverbot seien ihr formal zwar Geldstrafen aufgebrummt worden, die sich nur bei Nichtzahlung in Haft umwandelt.
Vor dem Hintergrund ihrer Situation sei dies faktisch aber von vornherein eine Gefรคngnisstrafe gewesen. Ein ausreichendes รถffentliches Interesse fรผr eine derart harte Sanktion habe nicht bestanden, stellte der EGMR fest.
EGMR: Betteln kann letzter Ausweg zur Wahrung der Menschenwรผrde sein
Dem Argument der Schweizer Gerichte, weniger strikte Regelungen wรผrden unwirksam bleiben, folgten die Straรburger Richter nicht. So gebe es auch in zahlreichen anderen Mitgliedsstaaten des Europarats Regelungen gegen das Betteln. Meist seien dies aber โnuanciertere Beschrรคnkungen als das pauschale Verbot” in der Schweiz.
Zwar hรคtten die Zeichnerstaaten der Europรคischen Menschenrechtskonvention auch hier โeinen gewissen Ermessensspielraum”. Dennoch erfordere die Einhaltung der Konvention, โdass die innerstaatlichen Gerichte die besondere Situation in dem ihnen vorliegenden Fall grรผndlich prรผfen”.
Schweiz hat Ermessensspielraum รผberschritten
Im konkreten Fall habe die Schweiz ihren Ermessensspielraum รผberschritten. โDie Klรคgerin war eine รคuรerst schutzbedรผrftige Person”, so zusammenfassend der EGMR.
โSie wurde fรผr ihre Handlungen in einer Situation bestraft, in der sie aller Wahrscheinlichkeit nach keine andere Wahl hatte, als zu betteln, um zu รผberleben.” Dies habe ihre Menschenwรผrde und den Kern ihres Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. mwo