Armut: Ist Betteln verboten oder Menschenrecht?

Lesedauer 2 Minuten

Dürfen arme Menschen auf der Straße betteln? Ja sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, wenn gewichtige Gründe vorliegen. Das hohe Gericht hat mit seinem Urteil faktisch aus Betteln ein Menschenrecht erstellt. Eine Betroffene klagte auf Entschädigung.

In großer Not ist Betteln ein Menschenrecht

Der EGMR hat faktisch ein Menschenrecht auf Betteln geschaffen. Für schutzbedürftige Menschen, die nur so ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, kann das Betteln ein „der Menschenwürde innewohnendes Recht” sein, urteilte der EGMR in Straßburg (Az.: 14065/15).

Er gab damit einer in der Schweiz lebenden Roma aus Rumänien recht und sprach ihr eine Entschädigung von 922 Euro zu.

Der konkrete Fall

Die Klägerin lebt in Genf. Sie ist Analphabetin und ist erwerbslos. Weil sie keinerlei soziale Unterstützung erhielt, war sie für ihren Lebensunterhalt auf Betteln angewiesen.

Wie in gut der Hälfte der Schweizer Kantone ist dies allerdings auch in Genf verboten. Mehrfach wurde sie kontrolliert und musste auf die Polizeiwache. Bei einer Leibesvisitation gefundene 16,75 Franken (15,50 Euro) wurden eingezogen.

Geldstrafe wegen Betteln

Insgesamt brummten die Behörden ihr Geldbußen von zuletzt insgesamt 500 Schweizer Franken (464 Euro) auf. Weil sie nicht zahlen konnte, musste sie für fünf Tage ins Gefängnis.

Wie nun der EGMR entschied, hat die Schweiz dadurch das Recht der Frau auf Privat- und Familienleben verletzt. Dabei rügten die Straßburger Richter insbesondere, dass die Regelung in Genf bettelnde Personen „pauschal” bestrafe.

Ein solches „völliges Verbot einer bestimmten Art von Verhalten” sei eine „radikale Maßnahme”. Es bedürfe daher einer „starken Rechtfertigung” und unterliege „einer besonders strengen Prüfung durch die Gerichte”.

Die Beschwerdeführerin stamme aus einer extrem armen Familie und habe keine Sozialleistungen erhalten. Insgesamt habe sie sich „in einer eindeutig schutzbedürftigen Situation” befunden.

Daher, so der EGMR, habe sie „das der Menschenwürde innewohnende Recht (gehabt), ihre Notlage zu vermitteln und zu versuchen, ihre Grundbedürfnisse durch Betteln zu befriedigen”.

Faktisch eine Gefängnisstrafe für das Betteln

Für ihre Verstöße gegen das Bettelverbot seien ihr formal zwar Geldstrafen aufgebrummt worden, die sich nur bei Nichtzahlung in Haft umwandelt.

Vor dem Hintergrund ihrer Situation sei dies faktisch aber von vornherein eine Gefängnisstrafe gewesen. Ein ausreichendes öffentliches Interesse für eine derart harte Sanktion habe nicht bestanden, stellte der EGMR fest.

EGMR: Betteln kann letzter Ausweg zur Wahrung der Menschenwürde sein

Dem Argument der Schweizer Gerichte, weniger strikte Regelungen würden unwirksam bleiben, folgten die Straßburger Richter nicht. So gebe es auch in zahlreichen anderen Mitgliedsstaaten des Europarats Regelungen gegen das Betteln. Meist seien dies aber „nuanciertere Beschränkungen als das pauschale Verbot” in der Schweiz.

Zwar hätten die Zeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention auch hier „einen gewissen Ermessensspielraum”. Dennoch erfordere die Einhaltung der Konvention, „dass die innerstaatlichen Gerichte die besondere Situation in dem ihnen vorliegenden Fall gründlich prüfen”.

Schweiz hat Ermessensspielraum überschritten

Im konkreten Fall habe die Schweiz ihren Ermessensspielraum überschritten. „Die Klägerin war eine äußerst schutzbedürftige Person”, so zusammenfassend der EGMR.

„Sie wurde für ihre Handlungen in einer Situation bestraft, in der sie aller Wahrscheinlichkeit nach keine andere Wahl hatte, als zu betteln, um zu überleben.” Dies habe ihre Menschenwürde und den Kern ihres Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. mwo