Führerschein mit Sehbehinderung: Was ist möglich?

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Für viele Menschen bedeutet der Führerschein Unabhängigkeit, Teilhabe am Berufsleben und spontane Freizeitgestaltung. Wer eine Sehbehinderung hat oder bei sich eine Verschlechterung der Augen bemerkt, steht deshalb oft vor einer sehr existenziellen Frage: Darf ich (noch) Auto fahren – und wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Die Antwort ist komplexer, als es ein kurzer Hinweis wie „unter 50 Prozent Sehkraft geht gar nichts“ vermuten lässt. Das deutsche Fahrerlaubnisrecht kennt klare Grenzwerte, lässt aber in bestimmten Fällen Spielräume für individuelle Begutachtungen. Gleichzeitig tragen Menschen mit Sehbehinderung eine besondere Verantwortung, um sich selbst und andere nicht zu gefährden.

Was die Fahrerlaubnis-Verordnung verlangt

Grundlage ist § 12 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV). Dort steht, dass zum Führen von Kraftfahrzeugen bestimmte Anforderungen an das Sehvermögen erfüllt sein müssen. Konkretisiert werden diese Vorgaben in Anlage 6 zur FeV.

Für die üblichen Pkw-Führerscheinklassen (Gruppe 1: unter anderem Klassen B, BE, A, A1, AM) gilt: Die Sehschärfe des besseren Auges oder die beidäugige Sehschärfe muss mindestens 0,5 betragen.

Zusätzlich kommt es auf Gesichtsfeld, Kontrastsehen, Blendempfindlichkeit und weitere Sehfunktionen an.

Für Lkw- und Bus-Fahrerlaubnisse (Gruppe 2) sind die Anforderungen deutlich strenger. Hier werden meist Werte von 0,8 für das bessere Auge und 0,5 für das schlechtere Auge gefordert, dazu ein größeres Gesichtsfeld.

Diese Grenzwerte beziehen sich auf das bestkorrigierte Sehen. Brillen oder Kontaktlinsen sind ausdrücklich vorgesehen, solange sich damit ein ausreichendes Sehvermögen herstellen lässt.

Sehschwäche ist nicht gleich Sehbehinderung

Im Alltag werden Begriffe wie „schlechte Augen“, Sehschwäche und Sehbehinderung häufig durcheinander genutzt. Medizinisch und rechtlich gibt es jedoch Unterschiede.

Eine Fehlsichtigkeit (Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit, Hornhautverkrümmung) lässt sich in vielen Fällen mit Brille oder Kontaktlinsen so ausgleichen, dass die gesetzlichen Anforderungen problemlos erfüllt werden.

Von einer Sehbehinderung spricht man eher, wenn auch mit optimaler Korrektur die Sehleistung dauerhaft deutlich vermindert ist oder das Gesichtsfeld stark eingeschränkt ist – etwa durch Makuladegeneration, Glaukom, Retinitis pigmentosa oder nach einem Schlaganfall.

Selbsthilfeverbände wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband beschreiben, dass ab einem Visus von etwa 0,3 und weniger der Alltag bereits gravierend beeinträchtigt sein kann.

Für die Fahrerlaubnis ist entscheidend, ob Sie mit Hilfsmitteln die gesetzlichen Mindestanforderungen erreichen und ob Gesichtsfeld und weitere Sehfunktionen noch ausreichen, um Verkehrssituationen sicher zu erfassen.

Führerschein mit Brille oder Kontaktlinsen

Die weitaus meisten Menschen mit Einschränkungen beim Sehen sind klassische Brillen- oder Kontaktlinsenträger. Für sie stellt der Führerschein zunächst kein besonderes Problem dar, solange der vorgeschriebene Sehtest bestanden wird.

Der Sehtest für die Pkw-Klasse wird in der Regel beim Optiker oder Augenarzt durchgeführt. Viele Anbieter und Fachgesellschaften geben an, dass der Test als bestanden gilt, wenn auf jedem Auge eine Sehschärfe von etwa 0,7 erreicht wird.

Wird dieser Wert verfehlt, darf die Fahrerlaubnis nur erteilt werden, wenn ein augenärztliches Gutachten bestätigt, dass die Mindestanforderungen nach FeV – also insbesondere der Wert von 0,5 für das bessere oder beide Augen zusammen – dennoch sicher erreicht werden.

Wenn nur mit Brille oder Kontaktlinsen ausreichend gesehen werden kann, wird dies als Auflage im Führerschein eingetragen, meist über die Schlüsselzahl 01 (Sehhilfe und/oder Augenschutz) in Feld 12.

Wer dann ohne Sehhilfe fährt, verstößt nicht nur gegen Verkehrsrecht, sondern riskiert auch versicherungsrechtliche Folgen.

Autofahren mit nur einem Auge

Viele Betroffene beschäftigt die Frage, ob Autofahren mit einem Auge erlaubt ist, etwa nach einem Unfall, einer Netzhautablösung oder bei angeborener Einäugigkeit.

Die FeV schließt Menschen mit Einäugigkeit nicht automatisch aus. Entscheidend ist, ob das funktionstüchtige Auge bestimmte Anforderungen erfüllt. Dazu gehört eine Sehschärfe von mindestens 0,5 bis 0,6 und ein ausreichend großes horizontales Gesichtsfeld von mindestens 120 Grad, das im Bereich von etwa 20 Grad um die Blickrichtung keine relevanten Ausfälle aufweisen darf.

Einäugige Fahrerinnen und Fahrer müssen sich in der Regel einer augenärztlichen Untersuchung und gegebenenfalls einer verkehrsmedizinischen Begutachtung unterziehen. Dabei wird geprüft, ob sie trotz fehlenden räumlichen Sehens Gefahren rechtzeitig erkennen, Entfernungen ausreichend einschätzen und auf unerwartete Situationen angemessen reagieren können.

Oft wird nach dem Verlust eines Auges eine Anpassungszeit empfohlen, in der man zunächst nicht selbst fährt, sondern sich als Mitfahrerin oder Mitfahrer an die veränderte Wahrnehmung gewöhnt. Manche Gutachten verbinden die Fahreignung mit Empfehlungen zu moderater Geschwindigkeit oder dem Verzicht auf Fahrten bei starkem Regen, in der Dämmerung oder in unbekannter Umgebung.

Gesichtsfeldeinschränkungen und andere komplexe Sehprobleme

Besonders heikel wird es, wenn das Gesichtsfeld eingeschränkt ist, zum Beispiel durch fortgeschrittenes Glaukom, Schlaganfälle mit halbseitigen Gesichtsfeldausfällen oder Netzhauterkrankungen. Studien und Verbandsinformationen zeigen, dass sich bei stark verengtem Gesichtsfeld Unfälle und Beinahe-Unfälle häufen, weil herannahende Fahrzeuge, Radfahrende oder Fußgänger schlicht zu spät im Blick sind.

Die FeV verlangt bei Pkw-Fahrerlaubnissen mindestens ein Gesichtsfeld von rund 120 Grad in der Horizontalen, bei schweren Klassen sogar mehr. Der Bereich um die direkte Blickrichtung herum soll frei von relevanten Ausfällen sein.

Wenn ein Augenarzt hier gravierende Defizite feststellt, ist eine Fahreignung häufig nicht mehr gegeben. In Grenzfällen können aber individuelle Gutachten mit praktischer Fahrprobe dazu beitragen zu klären, ob jemand trotz Einschränkungen noch sicher fährt. Leitlinien zur Fahreignungsbegutachtung betonen, dass die Behörde zwar an Grenzwerte gebunden ist, Gutachter in besonderen Einzelfällen aber Spielräume haben, solange die Verkehrssicherheit nicht darunter leidet.

Weitere Faktoren sind:

  • Dämmerungs- und Kontrastsehen, etwa bei Nachtblindheit oder hochgradiger Blendempfindlichkeit.
  • Doppeltsehen oder Augenmuskellähmungen.
  • Erkrankungen mit schwankender Sehschärfe, zum Beispiel Keratokonus.

In diesen Situationen entscheidet immer das individuelle Gutachten – oftmals mit einem eher strengen Maßstab, weil Fehler schwerwiegende Folgen haben können.

Neu auftretende Sehbehinderung: Was bedeutet das für einen bestehenden Führerschein?

Wer den Führerschein bereits besitzt und später eine Sehbehinderung entwickelt, ist rechtlich in einer anderen Ausgangslage als ein Erstantragsteller – aber nicht aus der Verantwortung entlassen.
Es gibt in Deutschland keine generelle gesetzliche Pflicht, Verschlechterungen des Sehvermögens der Fahrerlaubnisbehörde zu melden.

Allerdings gilt die allgemeine Pflicht, nur dann ein Fahrzeug zu führen, wenn man dazu in der Lage ist. Wer trotz deutlicher Einschränkungen weiter fährt, obwohl er oder sie weiß, dass die eigenen Fähigkeiten nicht mehr ausreichen, riskiert strafrechtliche Konsequenzen und Probleme mit der Haftpflicht- und Kaskoversicherung.

Ärztinnen und Ärzte unterliegen grundsätzlich der Schweigepflicht. Sie können aber in extremen Ausnahmefällen, etwa bei uneinsichtigen Patientinnen und Patienten mit massiv erhöhter Gefährdung, in einen Konflikt zwischen Schweigepflicht und Gefahrenabwehr geraten. Fachgesellschaften raten daher, Betroffene frühzeitig klar über Risiken, rechtliche Folgen und mögliche Alternativen zu informieren.

Für Betroffene empfiehlt sich in der Praxis ein gestuftes Vorgehen: Zunächst sollte eine augenärztliche Untersuchung mit verkehrsmedizinischer Fragestellung erfolgen. Wenn sich dort Zweifel an der Fahreignung ergeben, kann die Fahrerlaubnisbehörde eine förmliche Begutachtung anordnen, etwa bei einer Begutachtungsstelle für Fahreignung (TÜV, DEKRA).

Auflagen und Beschränkungen im Führerschein

Zwischen uneingeschränkter Fahreignung und der vollständigen Entziehung der Fahrerlaubnis gibt es Zwischenschritte. Die FeV sieht die Möglichkeit vor, Auflagen und Beschränkungen einzutragen, um Risiken bei bestimmten gesundheitlichen Einschränkungen zu mindern.

Über sogenannte Schlüsselzahlen im Feld 12 des Führerscheins können sehr unterschiedliche Festlegungen dokumentiert werden. Für das Sehen ist vor allem die Schlüsselzahl 01 relevant, die das Tragen einer Sehhilfe vorschreibt.

Daneben existieren Zahlen, die Fahrten auf bestimmte Bedingungen begrenzen. Die früher verbreitete Zahl 05.01 steht beispielsweise für Fahren nur bei Tageslicht, weitere Untercodes für eine Begrenzung des Fahrgebiets, ein Tempolimit oder das Verbot von Autobahnfahrten.

Solche Beschränkungen kommen etwa dann in Betracht, wenn bei Sehbehinderung zwar tagsüber eine ausreichende Wahrnehmung möglich ist, bei Dunkelheit aber erhebliche Defizite auftreten.

Ob und welche Einschränkungen eingetragen werden, hängt vom medizinischen Gutachten und der Entscheidung der Fahrerlaubnisbehörde ab. Selbst wenn die alte Schlüsselzahl 05 in der aktuellen Rechtslage formal durch andere Codes ersetzt wurde, bleibt das Instrument einer an die Sehfähigkeit angepassten Fahrerlaubnis erhalten.

Verantwortung und Haftung im Straßenverkehr

Rein formal mag die Frage lauten: „Darf ich noch fahren?“ Praktisch ist jedoch ebenso wichtig: „Kann ich noch sicher fahren?“
Statistische Daten speziell zu Sehbehinderung und Unfallrisiko sind begrenzt. Verbände weisen aber darauf hin, dass unterhalb bestimmter Sehschärfen und bei schweren Gesichtsfelddefekten das Risiko für Unfälle deutlich steigt.

Kommt es zu einem Unfall, kann eine nicht mehr ausreichende Sehfähigkeit gravierende Folgen haben:

Strafrechtlich droht der Vorwurf, vorsätzlich oder fahrlässig andere gefährdet zu haben.

Zivilrechtlich kann die Haftpflichtversicherung Regress fordern, wenn der Versicherte bewusst mit bekannt unzureichendem Sehvermögen gefahren ist.
Bei Personenschäden stehen zudem Schmerzensgeld- und Schadensersatzforderungen im Raum.

Faktisch geht es also nicht nur um das individuelle Bedürfnis nach Mobilität, sondern auch um den Schutz anderer Verkehrsteilnehmender, insbesondere Fußgänger, Radfahrer sowie blinde und sehbehinderte Menschen, die selbst auf akustische Signale und vorsichtige Autofahrer angewiesen sind.

Hilfen, Training und Alternativen

Wer mit Sehbehinderung mobil bleiben will, hat mehr Möglichkeiten als den eigenen Pkw – und kann sich zudem Unterstützung holen, um besser einschätzen zu können, was verantwortbar ist.

Augenärztinnen und Augenärzte mit verkehrsmedizinischer Erfahrung beurteilen nicht nur Visus und Gesichtsfeld, sondern beraten auch dazu, wie sich bei bestimmten Erkrankungen der Alltag anpassen lässt. Low-Vision-Spezialisten und orthoptische Fachkräfte helfen, verbleibende Sehreste optimal zu nutzen und geeignete vergrößernde Sehhilfen für Alltag und Beruf zu finden.

Blinden- und Sehbehindertenverbände bieten Beratung, Schulungen zur sicheren Orientierung im Straßenraum, Informationen zu Nachteilsausgleichen und häufig auch psychologische Unterstützung, wenn Betroffene den Führerschein aufgeben müssen.

Neben dem Pkw kommen der öffentliche Nahverkehr, spezielle Fahrdienste, Taxi-Modelle mit Zuschüssen, Carsharing mit Begleitperson oder Fahrgemeinschaften infrage. Für manche ist auch eine Kombination denkbar: tagsüber mit dem eigenen Auto auf vertrauten Strecken, bei Dunkelheit oder in Großstädten lieber mit Bahn oder Bus – sofern dies medizinisch verantwortbar und rechtlich erlaubt ist.

Was konkret möglich ist – und was nicht

Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein Führerschein ist mit Sehbehinderung durchaus möglich, wenn mit Brille oder Kontaktlinsen eine Sehschärfe erreicht wird, die die gesetzlichen Vorgaben erfüllt, das Gesichtsfeld ausreichend weit ist, keine gravierenden Störungen wie ausgeprägtes Doppeltsehen oder extreme Blendempfindlichkeit vorliegen und ein fachärztliches Gutachten die Fahreignung bestätigt.

Grenzfälle entstehen vor allem bei ausgeprägten Gesichtsfelddefekten, stark reduzierter Sehschärfe trotz Hilfsmitteln oder Erkrankungen mit großen Tag-zu-Tag-Schwankungen. Hier entscheidet letztlich die Fahrerlaubnisbehörde auf Grundlage medizinischer Gutachten.

Nicht möglich bleibt der Führerschein in der Regel bei hochgradiger Sehbehinderung oder Blindheit, also wenn auch mit optimaler Versorgung die Mindestanforderungen an Sehschärfe und Gesichtsfeld klar verfehlt werden. In diesen Situationen empfiehlt sich eine konsequente Orientierung auf andere Mobilitätsformen und Unterstützung durch Reha- und Beratungsangebote.

Realistisch bleiben, Chancen nutzen

Wer eine Sehbehinderung hat oder eine deutliche Verschlechterung seiner Augen bemerkt, sollte das Thema Führerschein nicht aus Angst verdrängen, sondern aktiv ansprechen – zunächst mit der behandelnden Augenärztin oder dem Augenarzt, gegebenenfalls mit einer verkehrsmedizinischen Begutachtungsstelle und Beratungsstellen der Blinden- und Sehbehindertenverbände.

Die gute Nachricht: Viele Einschränkungen lassen sich mit Sehhilfen und Auflagen so ausgleichen, dass Autofahren weiterhin möglich ist. Die weniger angenehme, aber ehrliche Seite ist: Manchmal ist es aus Gründen der Sicherheit besser, auf den eigenen Pkw zu verzichten.

Zwischen diesen Polen liegt ein breites Feld an individuellen Lösungen. Wer bereit ist, sein eigenes Sehvermögen kritisch zu prüfen, fachlichen Rat einzuholen und sich gegebenenfalls umzustellen, kann auch mit Sehbehinderung ein hohes Maß an Mobilität und Selbstbestimmung bewahren – im Auto, aber auch darüber hinaus.