Schulverweigerung und Hartz IV: Ein Teufelskreis

Lesedauer 5 Minuten

Jedes fünfte Kind verliert in der Schule den Anschluss. Diese Schüler gehen zwar in den Unterricht, beteiligen sich aber nicht. Oder sie schwänzen, verbringen die Schulzeit in der Innenstadt oder vor dem Computer. Die Gründe dafür, die Schule zu verweigern, sind zwar vielfältig, ein wesentlicher Grund ist jedoch Resignation. Kinder, die denken, sowieso auf Hartz-IV zu landen, verstehen nicht, warum sie sich in der Schule einbringen sollten.

Manche werden gänzlich lethargisch, andere organisieren ihr Leben außerhalb der Schule: Sie bauen ihren Status in Jugendgangs auf, dealen auf Flohmärkten oder sogar mit Drogen.

Jeder fünfte schwänzt die Schule
An Hauptschulen fehlen bis zu 20 % der Schüler unentschuldigt mehrere Stunden pro Woche. Der harte Kern der Schulverweigerer beträgt dabei circa 4 %. Das sind immerhin mehrere hundert tausend Schüler und Schülerinnen, wobei Jungen mit 75 % deutlich führen.

Im ersten Schulhalbjahr 2015/16 schwänzten 17,79 % der Berliner Schüler und Schülerinnen zwischen einem und zehn Tagen unentschuldigt, 1,56 % sogar bis zu 20 Tage, im zweiten Halbjahr sogar 20,84% und 2,32 %.

Nicht nur Schwänzen
Schwänzen ist nur die offen sichtlichste Form, sich der Schule zu verweigern. Pädagogen sprechen generell von „Schulabsentismus“, um die gestörte Beziehung zwischen Kind und Schule zu bezeichnen.

Dieser beginnt mit einer passiven Haltung dem Unterricht gegenüber. Die Betroffenen nehmen schlicht nicht am Geschehen teil. Hinzu kommen aktive Formen der Verweigerung wie Stören des Unterrichts, „Klassenkasper spielen“, später schwänzen die Schüler oft die ersten und letzten Stunden, dann ganze Tage.

Manche Schüler schwänzen im geheimen, gehen also aus dem Elternhaus und treiben sich die Schulzeit anderswo herum, informieren sich sogar oberflächlich über den gelehrten Stoff, um die Eltern anlügen zu können; andere bleiben mit Wissen der Eltern zu Hause.

Neu ist, dass viele Schüler beim Schwänzen in der Schule bleiben: Sie bleiben auf dem Schulhof oder in der Cafeteria. Sie vermeiden also die Schule als Lernort, schätzen sie aber als Lebenswelt.

Anerkennung und Zugehörigkeit
Traditionell gelten zwei Gründe als Ursachen einer Schulverweigerung: Die Faulheit der Schüler und die falsche Erziehung der Eltern. Studien belegen, dass diese Vorstellungen falsch sind. Schulprobleme haben fast nie etwas mit Faulheit oder mangelnder Erziehung zu tun. Sie sind hingegen vielschichtig. Generell identifizieren sich Kinder mit ihrer Rolle als Schule und suchen in dieser Anerkennung und Zugehörigkeit. Sie wollen vom Lehrer angenommen werden und einer Klassengemeinschaft angehören.

Wenn Anerkennung oder Zugehörigkeit gestört sind, dann kommt es zu Problemen in der Beziehung zwischen Schüler und Schule. Diese Probleme können sich zu traumatischen Erfahrungen ausweiten, auf die Kinder so reagieren wie andere Traumatisierte auch. Sie vermeiden jetzt die Situation, die sie frustriert, Stress und Angst erzeugt. Oft entwickelt sich jetzt eine Schulangst. Die hat zumindest den „Vorteil“, dass sie die Eltern zwingt, sich mit dem Problem zu beschäftigen.

Setzen die Eltern das Kind jetzt allerdings zusätzlichem Druck aus nach dem Motto „Reiß dich zusammen“ oder „was bist du bloß für ein Weichei“, oder, schlimmer noch „du bist doch nur faul“, treiben sie den Schüler immer weiter in seine Angst hinein.

Stattdessen sollten sie die Ängste ernst nehmen, das Kind unterstützen, genau nachfragen, was der konkrete Grund für die Angst ist, und, falls die Probleme sich nicht bessern, therapeutische Hilfe aufsuchen.

Fehlendes Selbstwertgefühl
Wenn das Selbstwertgefühl eines Kindes oder Heranwachsenden gestört ist, neigt es dazu, Konfliktsituationen zu vermeiden. Statt sich also in Konfrontationen mit anderen Schülern oder den Lehrern durchzusetzen, meidet es den Ort, wo es zu diesen Auseinandersetzungen kommen kann – und das ist die Schule.

Ist ein Mensch aber erst einmal in der Situation, dass sein Selbstwertgefühl gestört ist, dann wird es immer schwieriger, sich zu überwinden, sich in den Vordergrund zu stellen. Genau das bedeutet aber, sich aktiv in den Unterricht einzubringen: Wer fürchtet, dass ihn die anderen auslachen, wenn er einen Text vorliest, der versucht es irgendwann gar nicht mehr. Ihm fehlt der Mut, und je weniger dieser Mensch sich jetzt selbst ausprobiert, umso mehr fühlt er sich als Versager.

Bekommt er jetzt wegen mangelnder Beteiligung schlechte Noten, beschimpfen ihn seine Eltern ebenfalls als Nichtsnutz, festigt sich das negative Bild, dass der Schüler über sich selbst hat.

Störenfried als Rolle
Spätestens, wenn die Betroffenen die Lehrer provozieren oder den Unterricht stören, interpretieren viele Lehrer und Eltern das Verhalten falsch. Gerade diejenigen Schüler, die am dreistesten auftreten, kompensieren damit in der Regel ihr Gefühl, ein Versager zu sein.

Sie leiden unter mangelnder Anerkennung und suchen sich diese jetzt im Negativen. Oft haben sie bereits verinnerlicht, dass sie „kein Talent haben“ oder „dumm sind“ und provozieren, weil sie resignieren.

Lehrern geht der „Störenfried“ jetzt auf die Nerven, und sie erteilen schlechte Noten, um das Störverhalten zu bestrafen. Auch diese negative Reaktion ist aber eine Reaktion, und der Schüler fügt sich in die Rolle des „Enfant terrible“.

Insbesondere, wenn Lehrer und Eltern die Überzeugung festigen, dass die Betroffenen reale oder vermeintliche mangelnde Begabungen nicht durch Anstrengung überwinden könnten, fügen sich die Schüler in die Rolle des Störers.

Damit haben sie aber leider eine Rolle, die die Mitschüler von ihnen auch erwarten und das für den Schüler schädliche Verhalten so weiter verstärken. Jetzt aber ist das Stören kein Störverhalten mehr, sondern eine normale Reaktion auf die Erwartungen der Umwelt.

Was hat das mit Hartz-IV zu tun?
Die Ursachen für Schulverweigerung, nämlich fehlende Anerkennung und mangelndes Gefühl der Zugehörigkeit, die letztlich zu Resignation führen, gelten verschärft für Kinder, die von hartz-IV leben müssen.

Erst einmal werden sie häufig sozial geächtet, wenn sie sich zwischen Mitschülern befinden, deren Eltern ein regelmäßiges oder sogar höheres Einkommen haben. Hier haben Hartz-IV Abhängige oft den Ruf „asozial“ zu sein, nicht arbeiten zu wollen, „dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen“, keine Bildung zu haben, zu dumm zu sein, um Arbeit zu finden, psychische Probleme zu haben oder an Alkohol- wie Drogensucht zu leiden.

Mit diesem Stigma versehen, werden die betroffenen Schüler und Schülerinnen oft von Anfang an ausgegrenzt. Wer aber frühzeitig lernt, „nichts wert zu sein“, nicht „dazu zu gehören“ oder „auf der Seite der Verlierer zu stehen“, der nimmt dieses Selbstbild auch an – es sei denn, er hat ein Selbstwertgefühl entwickelt, das stärker ist als das Stigma.

Auch manche Lehrer teilen, explizit oder unausgesprochen, das Vorurteil vom „faulen Hartz-IV-Empfängers“, der in Jogginghose vor dem Fernseher sitzt und sich nur bewegt, um sich Bier beim Kiosk zu holen. Dementsprechend bewerten die Lehrkräfte dann auch die Schüler.

Das Leben findet außerhalb der Schule statt
Schüler, deren Mitschüler ebenfalls aus Familien kommen, die auf Hartz-IV angewiesen sind, laufen aber nicht weniger Gefahr, sich der Schule zu verweigern.

In sozialen Brennpunkten wie der bundesweit bekannten Rütli-Schule in Berlin-Kreuzberg lernen die Schüler von Anfang an, dass nur die wenigsten von ihnen nach dem Schulabschluss die Chance auf eine Ausbildung haben.

Gerade intelligente Schüler und Schülerinnen sehen die Durchhalteparolen der Lehrer „wenn du dich nur bemühst, schaffst du es schon“ als Märchen an – eine leicht durchschaubare Version des Tellerwäschers, der zum Millionär wird, während die Kinder in ihrem sozialen Umfeld nur Tellerwäscher sehen. Statt Energie in den Unterricht zu investieren, suchen sie jetzt schon früh nach alternativen Möglichkeiten, sich den Lebensunterhalt zu finanzieren.

Was tun, wenn der Wille fehlt?
Politiker von CDU, SPD und Grünen beklagen zwar immer wieder den „Bildungsnotstand“ in den Schulen und beklagen das Problem der „Schulverweigerer“, mit dem Bekämpfen der Ursachen verhält es sich aber wie mit dem „Fördern und Fordern“ bei Hartz-IV.

Kinder aus Hartz-IV-Familien erleben ständig, wie ihre Eltern, ihre Vorbilder, vom Jobcenter schikaniert, gedemütigt und unterdrückt werden. Das berechtigte Misstrauen gegenüber Institutionen, und dazu gehört auch die Schule, nehmen sie sozusagen mit der Muttermilch auf.

Die Schule als ein Ort des Lernens und der Entwicklung ist für viele von ihnen ein „gefährliches Terrain“, oft sind Lehrer für sie keine Vertrauenspersonen, sondern sie stehen ihnen mit der gleichen Distanz gegenüber wie ihre Eltern den Mitarbeitern des Jobcenters. (Dr. Utz Anhalt)

Ist das Bürgergeld besser als Hartz IV?

Wird geladen ... Wird geladen ...