Hartz IV-Wohnung: Verfassungswidriger § 22 SGB II

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Hartz IV-Wohnung: Verfassungswidriger § 22 SGB II zum Bundesverfassungsgericht. Hartz4-Plattform unterstützt Kläger gegen Jobcenter Diepholz auf dem Rechtsweg nach Karlsruhe zur Überprüfung der „Angemessenheitsregelung“.

12.09.2012

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 09. Februar 2010 auch zur Frage der „Angemessenheit“ einer Hartz IV-Wohnung exakt denselbenAnspruch an den Gesetzgeber gestellt wie beim Regelsatz. Dieser Arbeitsauftrag der Verfassungsrichter steht bis heute unerledigt in Sozialministerin von der Leyens Hausaufgabenheft. Zwar hat sie den Hartz IV Regelsatz mit viel Tamtam und öffentlicher Begleitmusik – wenn auch mit beschämendem Erfolg – durchs Parlament gejagt. Dass auch die „Unterkunft“ vom Bundesverfassungsgericht zum „menschenwürdigen Existenzminimum“ gezählt wurde, hat sie einfach mal eben klammheimlich unter den Tisch der Verfassungsrichter fallen lassen. Dabei hatten ihr die Verfassungsrichter angeordnet, auch das „unterkunftsbezogene Existenzminimum“ ebenso wie den Regelsatz „transparent, sachgerecht, realitätsgerecht sowie nachvollziehbar“ zu berechnen und im demokratisch-parlamentarischen Verfahren mit „unverfügbarem“ Leistungsanspruch in Gesetzesform zu gießen.

Stattdessen ist das lebenswichtige Dach über dem Kopf für Hartz IV-Betroffene bis heute dem verfassungswidrigen, bisweilen willkürlichen Spiel von Verwaltung und Judikative ausgeliefert. Ein Skandal, findet die Hartz4-Plattform – den jüngst endlich das Sozialgericht Mainz mit seinem wegweisenden Urteil vom 8 Juli 2012 (S 17 AS 1452/09) aufgedeckt hat.

Nach dem ausführlich begründeten Urteil aus Mainz ist die gesetzliche Regelung im § 22 Absatz 1 Satz 1 SGB II verfassungswidrig. Darin wird insbesondere der Verstoß gegen die rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung hervor gehoben. Die Richter des Sozialgerichts (SG) rügen, dass im Hartz IV-Gesetz die alleinige Parlamentsverantwortung auf nur mittelbar demokratisch legitimierte Verwaltungen und Gerichte übertragen worden sei, obwohl gerade „der anzuerkennende Bedarf für Unterkunftskosten auf Grund der wirtschaftlichen Bedeutung für die Leistungsberechtigten zum Kern des“ vom Bundesverfassungsgericht angeordneten „Gewährleistungsanspruchs und somit zu den wesentlich durch den Gesetzgeber zu regelnden Materien“ gehöre.

Die Hartz4-Plattform begleitet und unterstützt deshalb jetzt einen Kläger auf dem Rechtsweg nach Karlsruhe, um vor dem Bundesverfassungsgericht die verfassungswidrige gesetzliche Regelung zum Hauptstreitthema vor den Sozialgerichten, der „Angemessenheitsregelung“ für Hartz IV-Wohnungen überprüfen zu lassen.

Es dürfte eine der häufigsten Antworten an „Kunden“ der Jobcenter sein, wenn ein Umzug ansteht: „Die Zusicherung für die Wohnung kann nicht erteilt werden“. Daran ändern die – ganz offensichtlich vor allem am wirtschaftlichen Erfolg statt an ihrem sozialen Gesetzesauftrag orientierten – Sozialbehörden erfahrungsgemäß häufig selbst dann nichts, wenn die Mietkosten den Rahmen der sogenannten „Verwaltungsanweisungen“ noch nicht einmal übersteigen. Im Falle des Klägers aus dem niedersächsischen Diepholz beträgt der gesetzlich relevante Kaltmietpreis für die neue Wohnung mit 290,00 € auf den Cent genau soviel wie der für die alte.

Die Behörde jedoch bleibt stur bei ihrer Ablehnung und der Forderung, etwas Billigeres zu suchen, obwohl das Gesetz selbst bei „einem nicht erforderlichen Umzug“ fordert, „den bisherigen Bedarf“ weiterhin „anzuerkennen“. Das Jobcenter Diepholz beruft sich mit seiner Weigerung auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG). Die billigt – für den Fall, dass kein örtlicher Mietspiegel vorliegt – den Jobcentern einen Rückgriff auf § 12 des Wohngeldgesetzes (WoGG) mit einem Sicherheitszuschlag von 10 % zu. Auf dieser Basis schätzte das Jobcenter eine angebliche Angemessenheitsgrenze von 321,20 € für Kaltmiete einschließlich Nebenkosten, die das Sozialgericht (SG) Hannover der Behörde auch bestätigt. Vorsorglich vermeidet das SG dabei jedoch, das Pauschalierungsverbot zu erwähnen, welches das BSG ebenfalls mehrfach verkündet hat. Statt sich jedoch ernsthaft mit den Sozialrechtsfragen der Eilklage zu befassen, weicht der Richter trickreich auf einen Nebenkriegsschauplatz aus und zweifelt die Kündigung an.

Fristwahrend wurde zunächst ohne Begründung Beschwerde gegen die Entscheidung des SG Hannover beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in Celle eingelegt. Nach dem Motto – Akte zu und vom Tisch – hat der Richter des 9. Senats, Lustig, kurzerhand dem Kläger bereits die Erfolglosigkeit des Verfahrens angekündigt sowie gleich ein Formblatt mit der Aufforderung zur Rücknahme der Beschwerde zugestellt – noch ehe überhaupt die Beschwerdebegründung auf seinem Tisch lag. In der Begründung bekräftigt der Kläger sein Recht auf Übernahme der Wohnungskosten und beantragt gleichzeitig die Überprüfung der Verfassungskonformität bzw. Vorlage beim BVerfG.

Mit der Beschwerde beim LSG gegen die abweisende Entscheidung des SG beruft dr Kläger sich auf die wegweisende Entscheidung des Mainzer Sozialrichters Baar, der die Verfassungswidrigkeit der Wohnraum-Regelung im Hartz IV-Gesetz feststellte:

„Der in § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II verwendete "unbestimmte Rechtsbegriff" der "Angemessenheit", welcher der alleinige normtextliche Anknüpfungspunkt für die Beschränkung der Übernahme der Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II ist, genügt den im Urteil vom 9. Februar 2010 gestellten Anforderungen des BVerfG nicht.“

Und das Urteil rügt die „verfassungswidrige Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs durch das BSG“. Eine verfassungskonforme Auslegung der Hartz IV-Wohnraumregelung im § 22 SGB II könne nach Einschätzung des Mainzer Sozialgerichts allenfalls darin liegen, dass „die Angemessenheitsgrenzen (…) nur im Sinne der Missbrauchsverhütung verstanden
werden.“
Das bedeutet:

„Eine sinnvolle und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Funktion des Angemessenheitsbegriffs kann demzufolge sein, die staatliche Leistungspflicht nur in Einzelfällen zu begrenzen, in denen Leistungsberechtigte hinsichtlich ihrer Unterkunft deutlich erkennbar über den (orts-)üblichen Verhältnissen leben.“

Das entspricht nicht nur im Falle des Diepholzer Klägers sondern vermutlich auch in den meisten anderen streitigen Sozialrechtsverfahren nicht der Wirklichkeit. Da Streiten die Jobcenter wie die Kesselflicker häufig um wenige Euro – obwohl sie bei sach- und verfassungsgerechtem Umgang den Sozialgerichten massenhaft überflüssige Arbeit ersparen könnten.

Das Mainzer Urteil setzt sich ebenfalls kritisch mit dem sogenannten „schlüssigen Konzept“ des BSG auseinander. Auch dies übergehe die Anordnungen der Bundesverfassungsrichter aus dem Hartz IV-Urteil vom 09 Februar 2010. Dort sei nämlich ausdrücklich auch die „Unterkunft“ als wesentlicher Teil des Menschenwürdigen Existenzminimums den ausdrücklichen Anforderungen an „transparente, sachgerechte, realitätsgerechte, nachvollziehbare“ Ermittlungen und „Berechnungsverfahren“ unterworfen worden. Darüber hinaus rügt das SG Mainz insbesondere auch das verfassungswidrige Umgehen eines demokratisch-parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens bei der Hartz IVWohnraumbegrenzung im § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II. Denn „durch die Verschiebung der Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums in die Sphäre der Verwaltungs- und Gerichtspraxis ist die Gestaltung dieses elementaren Bestandteils der Existenzsicherung dem öffentlichen demokratisch-parlamentarischen Diskurs weitgehend entzogen.“

Dagegen könnten „die zur Bestimmung des Existenzminimums maßgeblichen "gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche" (…) in einer repräsentativen Demokratie nur durch das Parlament zum Ausdruck gebracht werden. Eine faktische Übertragung der Entscheidungsverantwortung auf nur mittelbar demokratisch legitimierte Verwaltung und Judikative (…) verstößt daher gegen das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG, welches im Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums als Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber konkretisiert ist.“

Nach Auffassung der Hartz4-Plattform ist durch diesen Prozess des Übergehens des Parlaments billigend in Kauf genommen worden, dass sich bis heute kein lautstarker Protest gegen diese verfassungswidrige, Willkür begünstigende Rechtsnorm artikuliert hat – wie er beispielsweise die Regelsatz-Diskussion begleitet hat. In diesem Kontext stellt das Urteil des SG Mainz im Übrigen richtigerweise fest: „Vergleichbare Auseinandersetzungen sowohl auf bundespolitischer als auch kommunalpolitischer Ebene in Bezug auf die Bestimmung der unterkunftsbezogenen Angemessenheitsgrenzen sind hingegen kaum wahrnehmbar, obwohl ihre quantitative Bedeutung für viele Leistungsberechtigte enorm ist.“

„Wir erwarten“, begründet Hartz4-Plattform-Sprecherin, Brigitte Vallenthin, die Unterstützung des Klägers aus Diepholz, „wegen der existenzbedrohenden Dramen, die sich um Amts-Willkür zur Anerkennung von Hartz IV-Wohnungen abspielen, dass die Bundesverfassungsrichter endlich ein Machtwort sprechen, den Gesetzgeber in seine Grundrechts-Schranken verweisen. Es ist endlich an der Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht – wie in seinem Urteil vom 09.02.2010 gefordert – Sorge trägt für einen gesetzlich festgeschriebenen Leistungsanspruch zur sogenannte „Unterkunft“, dass es den Schikanen aus den Jobcentern ein Riegel vorschiebt und damit den Sozialgerichten massenhaft unnötige Klagen erspart bleiben. Angesichts der riesengroßen Not, die bundesweit die Restriktionen des verfassungswidrigen § 22 SGB II verursacht haben – hoffen wir zugleich, dass spätestens jetzt endlich alle Verantwortlichen diesen Skandal einem öffentlichen Diskurs zuführen und dass sich ebenso wie beim Regelsatz lautstarker Protest formiert.“ (pm)

Anhang: Der Link zum Wortlaut des Mainzer Urteils vom 08 Juni 2012, Az: S 17 AS 1452/09

Bild: HHS / pixelio.de

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