Menschen, die an einer tödlich verlaufenden Krankheit leiden, erhalten keine weiteren Erleichterungen beim Zugang zu nicht zugelassenen Arzneimitteln. Die Arzneimittelsicherheit hat auch hier Vorrang vor der Hoffnung auf Linderung, wie das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel am Donnerstag, 29. Juli 2023, entschied (Az.: B 1 KR 35/21 R). Danach haben Versicherte keinen Anspruch auf Arzneimittel, für die ein Zulassungsverfahren für die betreffende Indikation erfolglos geblieben ist.
Das BSG wies damit die Klage eines 18-Jährigen ab, der an einer bestimmten Form der Duchenne-Muskeldystrophie leidet. Seit 2015 kann er nicht mehr gehen. Seine durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 28 Jahren.
Antrag auf Erweiterung der Zulassung wurde abgelehnt
Im Jahr 2019 beantragte er die Kostenübernahme für das Medikament Translarna mit dem Wirkstoff Ataluren. Die Versorgung würde jährlich rund 170.000 Euro kosten. Das Medikament ist von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) für die Behandlung dieser Duchenne-Variante zugelassen, aber wegen der besseren Datenlage nur für Patienten, die noch gehen können. Ein Antrag auf Erweiterung der Zulassung wurde wegen unzureichender Daten negativ beschieden und vom Hersteller nicht weiter verfolgt.
Im Streitfall lehnte die Krankenkasse daher die Versorgung ab. Nach dem so genannten Nikolausurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 müssen die Krankenkassen bei lebensbedrohlichen Erkrankungen jedoch auch nicht anerkannte Methoden bezahlen, wenn diese eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht“ auf Heilung oder Linderung versprechen und es keine anerkannte Alternative gibt. Dies hatte der Gesetzgeber mit Wirkung ab 2012 auch in das Sozialgesetzbuch aufgenommen.
Das BSG hatte in seiner Rechtsprechung hierzu allerdings eine „Sperrwirkung“ angenommen, wenn – wie hier – ein Zulassungsverfahren für die betreffende Indikation erfolglos geblieben war.
Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz hatte dem Kläger dennoch Recht gegeben (Urteil, Az.: L 5 KR 211/20). Die „Sperrwirkung“ könne nur bei einer inhaltlich negativen Bewertung durch die deutsche oder europäische Zulassungsbehörde greifen. Hier sei die Zulassung aber nur an der unzureichenden Datenlage gescheitert und das Medikament verspreche jedenfalls die Aussicht auf einen spürbar positiven Verlauf.
Vorrang des Arzneimittelrechts auch bei tödlichen Erkrankungen
Das BSG folgte dem nicht und hielt an der generellen „Sperrwirkung“ einer negativen Entscheidung oder Bewertung im Zulassungsverfahren fest. Von der erforderlichen Aussicht auf einen Behandlungserfolg könne dann nicht ausgegangen werden.
„Die Arzneimittelzulassung soll Patienten gerade bei schweren Erkrankungen vor unkalkulierbaren Risiken schützen“, betonte der 12. Senat unter Vorsitz von BSG-Präsident Rainer Schlegel. „Das Zulassungsverfahren bietet wegen der hohen fachlichen Kompetenz der Arzneimittelbehörden eine besonders hohe Gewähr für die Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit der Prüfung.“
Die Kasseler Richter räumten ein „Spannungsverhältnis“ zwischen dieser arzneimittelrechtlichen Sichtweise und der 2012 in das Sozialgesetzbuch eingefügten Vorschrift ein. Es gebe aber „gewichtige Gründe, an der Sperrwirkung festzuhalten“.
BSG lehnt weitere Erleichterung beim Zugang zu Medikamenten ab
Das arzneimittelrechtliche Zulassungsverfahren diene dem Schutz der Patienten vor „zweifelhaften Therapien“. Im Hinblick darauf verzichte die gesetzliche Krankenversicherung auf ein eigenes Prüfverfahren. Würden die Krankenkassen in Fällen wie dem vorliegenden die Kosten übernehmen, würde das Zulassungsverfahren bei schwerwiegenden seltenen Erkrankungen „praktisch ausgehebelt“. Es sei „nicht erkennbar“, dass der Gesetzgeber dies mit seiner Regelung zu tödlich verlaufenden Krankheiten gewollt habe.
Zudem könne die „Sperrwirkung“ überwunden werden, „wenn nach der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, die zumindest die Voraussetzungen für eine vereinfachte, gegebenenfalls bedingte Zulassung erfüllen“.
Ein vergleichbarer Rechtsstreit ist derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Der 12. Senat des BSG hatte auf Anfrage der Karlsruher Richter erklärt, seine bisherige Rechtsprechung in dem nun entschiedenen Verfahren überprüfen zu wollen. Im Ergebnis blieben die obersten Sozialrichter bei ihrer Auffassung. mwo/fle