Der Sozialhilfeträger muss auch Leistungen für die Vergangenheit erbringen. Denn wird ein Antrag auf Sozialhilfeleistungen gestellt, wirkt die Kenntnis des Sozialhilfeträgers von der Bedarfslage bei späterem Nachweis der Anspruchsvoraussetzungen auf den Zeitpunkt der Antragstellung zurück, auch wenn der Antrag unvollständig gewesen ist.
Leistungen der Sozialhilfe setzen antragsunabhängig ab Kenntnis des Sozialhilfeträgers ein. So aktuell entschieden vom LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.09.2024 – L 7 SO 2479/23 –
Die Kenntnis vom Bedarfsfall nach § 18 SGB XII als auslösendes Moment soll einen niederschwelligen Zugang zur Sozialhilfe gewährleisten. Die Sozialhilfe soll also u.a. nicht von dem formellen Erfordernis einer Antragstellung als Leistungsvoraussetzung abhängig sein.
Das schließt jedoch die Möglichkeit einer Antragstellung § 16 SGB 1 keineswegs aus (vgl. dazu etwa BSG, Urteil vom 26. August 2008 – B 8/9b SO 18/07 R –).
Stellung eines formlosen Antrages auf Sozialhilfeleistungen
Wird ein formloser Antrag auf Sozialhilfeleistungen gestellt, der die Behörde ohne weitere Angaben des Antragstellers noch nicht in die Lage versetzt, die Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen, sind – soweit die Voraussetzungen im Weiteren erwiesen werden – Leistungen für die Vergangenheit (ab Antragstellung) zu zahlen.
Die zum Einsetzen der Sozialhilfe führende Kenntnis im Sinne von § 18 Abs. 1 SGB XII erlangt die Behörde damit bereits mit dem Antrag.
Der im Hinblick auf den Personenkreis der Leistungsberechtigten nach dem SGB XII bewusste Verzicht auf einen Antrag würde sonst ebenso wie der Begriff des Einsetzens der Sozialhilfe ad absurdum geführt und etwa der Leistungsberechtigte von antragsgebundenen Leistungen gegen den Willen des Gesetzgebers bevorzugt.
So wäre es widersinnig, müssten Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41 ff. SGB XII bei einem unvollständigen Antrag bereits ab Antragstellung gewährt werden, während die Sozialhilfe im Übrigen trotz gleicher Ausgangslage erst später einsetzen würde.
Durch die Antragstellung wird dem Leistungsträger signalisiert, dass die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens (§§ 8 ff. SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 SGB I) begehrt wird, das grundsätzlich mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes (Ablehnung oder Bewilligung der Leistungen) abgeschlossen wird
Im Rahmen dieses durch den Antrag eröffneten Verwaltungsverfahrens treffen sowohl die Behörde wie auch den Antragsteller bestimmte Pflichten, die im Einzelnen im SGB I und SGB X normiert sind (s. BSG, Urteil vom 28. Oktober 2009 – B 14 AS 56/08 R –).
§ 66 Abs. 3 SGB I
Insbesondere § 66 Abs. 3 SGB I zeigt, dass ein Leistungsberechtigter nach Einleitung eines Verwaltungsverfahrens nach §§ 8 ff. SGB X darauf vertrauen kann, dass er auf Mitwirkungsversäumnisse schriftlich hingewiesen wird und zudem die Gelegenheit erhält, das Versäumte nachzuholen.
Dies ist im vorliegendem Fall aber nicht erfolgt
Vielmehr enthält die Verwaltungsakte des Sozialhilfeträgers nach der Vorsprache bis zur Kontaktaufnahme durch die M. R. neben einer Meldeamtsabfrage (nur) das Schreiben vom 21. Oktober 2019.
Ein Hinweis auf die Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I und gegebenenfalls eintretende Konsequenzen bei deren Verletzung enthält dieses Schreiben nicht, bei dem mangels Absendevermerk daneben schon nicht erkennbar ist, ob es überhaupt in den Postweg gefunden hat.
Fazit:
Das mit dem Antrag eröffnete Verwaltungsverfahren über die Gewährung von Hilfe zur Pflege ist bis zu dem Erlass des Bescheides , mit dem der Beklagte über den geltend gemachten Anspruch entschieden hat, nicht abgeschlossen gewesen, weswegen der Beklagte auch diesen Zeitraum einer konkreten Prüfung hätte unterziehen müssen und sich in seiner Entscheidung aufgrund der ausdrücklichen Antragstellung des F. E. nicht darauf hätte zurückziehen dürfen, keine Kenntnis von dem Bedarfsfall gehabt zu haben.
Nachdem die Leistungsvoraussetzungen vorgelegen haben, ist der Beklagte entsprechend zur Erbringung von Hilfe zur Pflege für die ungedeckten Heimkosten zu verurteilen.
Hinweis
Die Sozialhilfe muss nicht beantragt werden, sondern setzt unmittelbar ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt wird, dass die Leistungsvoraussetzungen gegeben sind.
Eine Ausnahme bilden lediglich die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel ( § 18 SGB XII ).
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Detlef Brock ist Redakteur bei Gegen-Hartz.de und beim Sozialverein Tacheles e.V. Bekannt ist er aus dem Sozialticker und später aus dem Forum von Tacheles unter dem Namen “Willi2”. Er erstellt einmal wöchentlich den Rechtsticker bei Tacheles. Sein Wissen zum Sozialrecht hat er sich autodidaktisch seit nunmehr 17 Jahren angeeignet.