Die Beurteilung eines Grades der Behinderung aufgrund einer psychischen Erkrankung gestaltet sich oft schwierig. Ein Verfahren, in dem das Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg letztlich den GdB von 50 auf 30 senkte, zeigt, wie differenziert die fรผr Laien oft kaum verstรคndlichen Kriterien sind. (L 6 SB 2671/23)
Inhaltsverzeichnis
Erwerbsminderung und psychotische Stรถrung
Der Betroffene wuchs in Russland auf und lebt seit 1993 in Deutschland. Er arbeitete nach einem Studium als Betriebswirt bei Bosch, ist verheiratet und Vater zweier Tรถchter. Seit 2019 bezieht er eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.
Antrag auf Grad der Behinderung
Er beantragte die Feststellung eines Grades der Behinderung. Als Grundlage schickte er der zustรคndigen Behรถrde den Entlassungsbericht einer stationรคren Behandlung mit der Diagnose einer akuten polymorphen psychotischen Stรถrung mit Symptomen einer Schizophrenie.
Stress und Schlafmangel
Als Auslรถser der Symptome galten erheblicher beruflicher und privater Stress sowie mehrere Tage anhaltender Schlafmangel. Er selbst gab an, sich komisch zu fรผhlen und den Eindruck zu haben, beobachtet und verfolgt zu werden.
Wahnvorstellungen verbessern sich schnell
Bei der Einlieferung wurden Symptome einer Psychose mit Wahnvorstellungen erkannt. Medikamente hรคtten den Zustand schnell verbessert. Er sei ruhiger und kooperativer geworden, hรคtte in den offenen Bereich verlegt werden kรถnnen, und in der zweiten Woche hรคtte er keine psychotischen Symptome mehr gezeigt.
Bei der Entlassung ohne Stรถrungen
Er sei nach wenigen Wochen entlassen worden mit der Empfehlung einer regelmรครigen psychiatrischen Anbindung und einer stationรคren Reha. Bei der Entlassung sei er wach, voll orientiert und freundlich gewesen. Es hรคtte keine Stรถrungen von Aufmerksamkeit, Konzentration oder Gedรคchtnis gegeben. Der Affekt sei ausgeglichen, das formale und inhaltliche Denken unauffรคllig gewesen. Ich-Stรถrungen hรคtten nicht bestanden.
Manische und depressive Phase
Im Rรผckblick sei der erste Aufenthalt in stationรคrer Behandlung als manische Phase zu bewerten. Erst im Nachhinein sei der Betroffene in der Lage gewesen, ausfรผhrlich รผber die Dynamik seiner damaligen Symptome zu reden. Wรคhrend einer folgenden Behandlung mit Sertralin hรคtte er innerhalb einer depressiven Phase Suizidgedanken entwickelt. Er selbst gab an, vor 2019 nie psychische Probleme dieser Form gehabt zu haben.
Behรถrde stellt Grad der Behinderung von 30 fest
Eine ambulante Untersuchung einige Monate spรคter diagnostizierte eine bipolare affektive Stรถrung mit dem Verdacht auf eine REM-Schlaf-Verhaltensstรถrung. Vier Monate spรคter kam ein weiterer Befundbericht, dass die akute Symptomatik der bipolaren Stรถrung derzeit remittiert sei.
Der Betroffene habe seit Beginn seiner Erkrankung sein altes Leistungsniveau nicht wieder erreicht, sei weniger belastbar und weniger stresstolerant als zuvor. Die Schlafstรถrung fรผhre zu vermehrter Tagesmรผdigkeit. Das psychosoziale Leistungsniveau sei reduziert. Die zustรคndige Behรถrde bewertete den Grad der Behinderung auf Grundlage dieser Befunde mit 30.
Bipolare Stรถrung und Schlafwandeln
Er legte Widerspruch ein. Diesen begrรผndete er damit, dass eine bipolare Stรถrung vorliege. Zwar seien die akuten Symptome derzeit remittiert, doch bestehe verminderte Belastbarkeit und Stresstoleranz. Zusรคtzlich habe er eine Parasomnie in Form von Schlafwandeln, was ihn zusรคtzlich psychisch beeintrรคchtige. Die Stรถrungen fรผhrten zu erheblichen psychosozialen Auswirkungen, und ein Grad der Behinderung von mindestens 50 sei angemessen.
Die versorgungsรคrztliche Beurteilung der Behรถrde erkannte keine schwerwiegenden sozialen Anpassungsstรถrungen. Die stรคrker behindernde Stรถrung sei mit 30 korrekt bewertet.
Mittlere psychische Stรถrung ist gegeben
Der Betroffene klagte vor dem Sozialgericht Freiburg, um einen hรถheren Grad der Behinderung durchzusetzen. Als Zeugen traten die ihn behandelnden รrzte auf. Ein Ergebnis lautete: โZwar sei es unter medikamentรถser Therapie zu einer Stabilisierung in dem Sinne gekommen, dass keine manischen oder depressiven Phasen mehr auftrรคten, es bestehe aber ein Residualzustand, also interepisodisch eine verminderte Belastbarkeit, Leistungsfรคhigkeit und Stresstoleranz. Es lรคgen soziale Anpassungsschwierigkeiten vor.โ
Arbeitszeit reduziert
“Der Klรคger habe seine Stundenzahl auf 30 % reduziert, sich bei weiterbestehendem Gefรผhl von รberforderung auf eine weniger anspruchsvolle Tรคtigkeit umsetzen lassen und seine Stundenzahl auf 20 pro Woche begrenzt.โ Eine mittlere psychische Stรถrung sei gegeben.
Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten
Das Sozialgericht erkannte keine schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten wie sehr stark gefรคhrdete berufliche Tรคtigkeiten oder schwerwiegende Probleme in der Familie. Beides sei bei ihm nicht gegeben. Bei ihm seien es verminderte Einsatzfรคhigkeit und psychische Verรคnderung mit beruflicher Gefรคhrdung, Kontaktverlust und erheblichen familiรคren Problemen. Er hรคtte also mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten.
Sozialgericht sieht Grad der Behinderung von 50 als angemessen an
Das Sozialgericht verpflichtete die Behรถrde, einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen. Die Begrรผndung lautete, dass โbei einem schizophrenen Residualzustand einย ย von 10 bis 20 bei Vorliegen geringer und einzelner Restsymptome ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten vorgesehen sei. Bei leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten betrage der Beurteilungsrahmen 30 bis 40, bei mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten 50 bis 70 und bei schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80 bis 100.โ
Grad der Behinderung von 30 ist korrekt
Die zustรคndige Behรถrde legte Berufung vor dem Landessozialgericht ein und begrรผndete dies damit, dass der Betroffene die Kinder zur Schule bringe, sie abhole, koche und den Haushalt versorge. Insofern werde die Grenze zu mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten nicht รผberschritten. Es sei eine Stabilisierung festgestellt worden und eine engmaschige Betreuung nicht mehr nรถtig.
Das Landessozialgericht hob das Urteil des Sozialgerichts auf. Zu Recht sei ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt worden.
Die psychischen Grundfunktionen sind intakt
Die Richter begrรผndeten diese Entscheidung wie folgt: โNach dem Abklingen lang dauernder psychotischer Episoden ist eine Heilungsbewรคhrung von zwei Jahren abzuwarten. Derย ย betrรคgt in dieser Zeit, wenn bereits mehrere manische oder manische oder depressive Phasen vorausgegangen sind 50, sonst 30. Eine Heilungsbewรคhrung braucht nicht abgewartet zu werden, wenn eine monopolar verlaufene depressive Phase vorgelegen hat, die als erste Krankheitsphase oder erst mehr als zehn Jahre nach einer frรผheren Krankheitsphase aufgetreten ist.โ
Beim Betroffenen gebe es keine objektiv diagnostizierte Schizophrenie. Vielmehr hรคtte ein Sachverstรคndiger die psychischen Grundfunktionen als intakt, den Betroffenen als allseits orientiert und bewusstseinsklar beschrieben.
Weder Wahn noch Halluzination
Es hรคtte gar keine typisch psychotischen Symptome wie Wahn oder Halluzinationen gegeben stattdessen eine ausgeglichene Stimmung. Ein florides Stadium einer Psychose, welches lรคnger als ein halbes Jahr angehalten hรคtte, bestehe weder noch hรคtte es bestanden.
Ohne langdauernde Psychose kein Grad der Behinderung von 50
Die Richter fรผhrten aus, dass โein Grad von 50 einer langdauernden Psychose im floriden Stadium entspricht, ein vergleichbarer Zustand beim Klรคger aber nicht vorliegt. Ein solcher Vergleich mit anderen schwerwiegenden Erkrankungsbildern ist bei der Gesamtwรผrdigung anzustellen.โ