Schwerbehinderung: Sturzgefahr für Merkzeichen aG nicht ausreichend – Urteil

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Um das Merkzeichen „aG“ außergewöhnliche Gehbehinderung festzustellen, muss eine Umgebung berücksichtigt werden, wie sie sich typischerweise nach eines Verlassen eines Kraftfahrzeugs findet.

Dabei rechtfertigt Sturzgefahr dieses Merkzeichen nur, wenn der Betroffene „aus der objektiven und medizinisch begründeten Sicht eines verständigen behinderten Menschen dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen ist.“ Damit begründete das Bundessozialgericht, warum die Forderung eines Betroffenen mit Muskelschwund neu verhandelt werden musste. (AZ: B 9 SB 1/22 R).

Hintergrund des Falls

Der Betroffene leidet an einer fortschreitenden Muskeldytrophie sowie einer Herzmuskelschwäche. 2017 beantragte er die Feststellung eines höheren Grades als dem bisher festgestellten Grades von 60.

Zusätzlich zu dem bereits zuerkannten Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) forderte er das Merkzeichen „aG“ für eine außergeöwhnliche Gehbehinderung. Das zuständige Versorgungsamt stellte zwar einen Grad der Behinderung von 80 fest und auch weiterhin das Merkzeichen G. Die Behörde lehnte es aber ab, das Merkzeichen aG anzuerkennen.

Freie Bewegung bedeutet Gefahr der Selbstverletzung

Der Betroffene klagte vor dem Sozialgericht, doch dieses wies die Forderung nach dem Merkzeichen aG ab. Seine Berufung von der Landessozialgericht hatte hingegen Erfolg. Dieses verpflichtete das Versorgungsamt, die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.

Der Kläger habe eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspreche. Er könne sich ohne Gefahr der Selbstverletzung in einem maßgeblich normalen Lebensumfeld nicht mehr frei bewegen. Selbst ein beidseitig Oberschenkelamputierter mit Orthesen sei sicherer auf ebenem und unebenem Gelände unterwegs als der Betroffene

Kein Rollator ist möglich

Die Muskelschwunderkrankung sei beim ihm mit mittelgradigen Auswirkungen verbunden. Da er die Arme nicht zur Gleichgewichtskoordination oder zum Gebrauch einer Gehhilfe oder eines Rollators nutzen könne, sei dies mit einem  von 80 zu bewerten.

Zudem entspreche sein Bewegungsablauf Betroffenen, bei denen wegen der fehlenden Funktion der Hüftgelenke eine vergleichbare Situation bestehe. Diesen habe auch nach alter Rechtslage das Merkzeichen  zugestanden.

Laut Versorgungsamt spielt die Gefahr der Selbstverletzung keine Rolle

Das Versorgungsamt forderte vor dem Bundessozialgericht das Urteil aufzuheben. Das begründete die Behörde damit, dass eine freie Gehfähigkeit ohne Gefahr Selbstverletzung kein Maßstab für das Merkzeichen „aG“ sei. Zudem gehe es bei einer dauernden Beeinträchtigung nicht auf ein „normales Lebensumfeld“, sondern um alle Lebenslagen. Das Landessozialgericht hätte so die festgelegten Kriterien außer Acht gelassen.

Das Bundessozialgericht verlangt Nachbesserung

Das Bundessozialgericht stimmte der Einschätzung der vorhergehenden Instanz zwar weitgehend zu, verlangte jedoch trotzdem eine erneute Überprüfung. Der Senat könne nämlich aufgrund der vorhandenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliegt.

Es müsse erstens geprüft werden, ob die erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Betroffenen durch seine Muskeldystrophie für sich genommen bereits einem Grad der Behinderung von 80 entspricht.
Weiter heißt es: „Nach den tatsächlichen Feststellungen des  im angegriffenen Urteil kann sich der Kläger im öffentlichen Verkehrsraum außerhalb seines Fahrzeugs „dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung“ bewegen. Diese Feststellungen sind für den Senat bindend.“

Wie eine losgelassene Marionette

Ausreichend deutlich sei, dass es bei dem Betroffenen häufig zu plötzlichen unbegrenzten Stürzen gekommen sei, ähnlich wie bei einer „losgelassenen Marionette“. Es bestehe keine freie Gehfähigkeit mehr, ohne sich an Bordsteinkanten oder Bodenunebenheiten zu verletzen. Er sei auch nicht in der Lage, Gehhilfen wie einen Rollator zu nutzen.

Feststellungen zu den Merkmalen der Muskelschwäche fehlen

Das Bundessozialgericht sah also tendenziell die Kriterien für das Merkzeichen „aG“ gegeben, kritisierte jedoch:

„Vorliegend hat sich das Berufungsgericht bei der Bewertung der sich auf die Gehfähigkeit des Klägers auswirkenden Muskelschwunderkrankung zwar zutreffend an Teil B  18.6  orientiert, jedoch hat es zu den dort für eine Muskelschwäche mit mittelgradigen Auswirkungen genannten Merkmalen keine Feststellungen getroffen. Dies wäre jedoch erforderlich gewesen, um die Beeinträchtigungen des Klägers unter den genannten Tatbestand der  zu subsumieren.“

Deshalb muss die vorherige Instanz den Fall noch einmal überprüfen.