Schwerbehinderung: Merkzeichen G auch ohne Grad der Behinderung von 50

Lesedauer 3 Minuten

Das Merkzeichen G wird anerkannt, wenn die Betroffenen im StraรŸenverkehr erheblich beeintrรคchtigt sind. Dabei gilt dies auch ohne, dass mobilitรคtsbezogene Schwerbehinderung (ein Grad der Behinderung von 50) vorliegen muss.

Darauf wies das Sozialgericht Kiel das Landesamt fรผr soziale Dienste Schleswig-Holstein hin, welches einer Betroffenen die Anerkennung dieses Merkzeichens versagen wollte, weil sie keinen Grad der Behinderung von 50 hat.

Wer erhรคlt das Merkzeichen G?

Ein Merkzeichen G erhalten Menschen, deren Bewegungsfรคhigkeit im StraรŸenverkehr erheblich eingeschrรคnkt ist, beziehungsweise solche, die erheblich geh- und / oder stehbehindert sind.

Die Voraussetzung fรผr das Merkzeichen G findet sich Paragraf 229 Absatz 1 Satz 1 des SGB IX: “In seiner Bewegungsfรคhigkeit im StraรŸenverkehr erheblich beeintrรคchtigt ist, wer infolge einer Einschrรคnkung des Gehvermรถgens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfรคllen oder von Stรถrungen der Orientierungsfรคhigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren fรผr sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurรผckzulegen vermag, die รผblicherweise noch zu FuรŸ zurรผckgelegt werden.”

Welche Stรถrungen rechtfertigen unter anderem unter das Merkzeichen G?

Darunter fallen Funktionsstรถrungen der unteren GliedmaรŸen und/oder der Lendenwirbelsรคule mit einem Grad der Behinderung (GdB) von oder mehr 50.

Bei Behinderungen an den Beinen, die die Gehfรคhigkeit besonders erschweren, gilt ebenso das Merkzeichen. Das sind zum Beispiel ein versteiftes Hรผft-, Knie- oder FuรŸgelenk (bei Knie oder FuรŸ in einer behindernden Stellung), sowie eine arterielle Verschlusskrankheit mit einem Grad der Behinderung von 40.

Weiterhin fallen darunter schwere Herzschรคden, dauernde Einschrรคnkung der Lungenfunktion, chronische Niereninsuffizienz mit starker Anรคmie, und andere massive innere Leiden. Bei diesen wird รผberhaupt kein Grad der Behinderung genannt, der mit dem Merkzeichen verbunden ist.

Bei reinen Sehbehinderungen gilt ein Grad der Behinderung von mindestens 70 als MaรŸstab, bei Sehbehinderungen von 50 oder 60 geben diese dann den Ausschlag, wenn weitere Stรถrungen der Balance vorliegen (zum Beispiel Taubheit oder geistige Behinderungen).

Taubheit rechtfertigt ein Merkzeichen G ebenso wie starke Schwerhรถrigkeit mit weiteren erheblichen Stรถrungen der Ausgleichsfunktion. Bei einer geistigen Behinderung mit einem Grad der Behinderung von 100 gilt ebenfalls Kennzeichen G.

Klar ist also: Ein mobilitรคtsbezogener Grad der Behinderung von 50 ist fรผr die Anerkennung eines Merkzeichens G nicht erforderlich.

Lesen Sie auch:
Schwerbehinderung: Gute Umbau-Zuschรผsse fรผr Wohnungen und Hรคuser

Zum Fall

Im gerichtlich verhandelten Fall litt die Klรคgerin an dissoziativen Lรคhmungen infolge einer psychischen Erkrankung. Diese fรผhren zeitweise dazu, dass sie teilweise oder vollstรคndig die Kontrolle รผber ihre Kรถrperbewegungen verliert.

Deswegen hatte sie die Zuerkennung des Merkzeichens G beantragt. Das Landesamt fรผr soziale Dienste Schleswig-Holstein hatte den Antrag mit der Begrรผndung abgelehnt, dass bei ihr keine mobilitรคtsbezogene Teilhabebeeintrรคchtigung nachgewiesen sei mit einem GbB von 50 bei sich auf die Gehfรคhigkeit auswirkenden Funktionsstรถrungen der unteren GliedmaรŸen und/oder der Lendenwirbelsรคule.

Das Gericht muss dem Landesamt das Gesetz erklรคren

Die Betroffene klagte vor dem Sozialgericht Kiel. Fรผr das Gericht war die Sachlage eindeutig. Es wies das Landesamt darauf hin, dass in der Verordnung der Versorgungsmedizin Teil D 1 รผberhaupt kein mobilitรคtsbezogener Grad der Behinderung von 50 gefordert wรผrde.

Zudem kรถnnte nach hรถchstrichtlerlichem Urteil bei einem Zusammenwirken von orthopรคdischen und psychischen Gesundheitsstรถrungen das Merkzeichen G sogar dann festgestellt werden, wenn die orthopรคdische Gesundheitsstรถrung keinen Grad von 40 erreiche.

Das Landesamt erwies sich trotz der eindeutigen Rechtslage nicht einsichtig, und das Gericht verurteilte die Behรถrde dazu, das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens G bei der Klรคgerin festzustellen.

Weitere Urteile bestรคtigen die Rechtsprechung zugunsten der Klรคgerin

Das Sozialgericht Kiel hรคtte sich auch auf ein Urteil des Landessozialgerichts des Saarlands vom 05.06. 2019 beziehen kรถnnen, auch wenn es hier nicht um psychische, sondern um neurologische Erkrankungen ging.

Dieses entschied: “Die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkzeichens G kรถnnen auch erfรผllt sein, wenn zwar die auf die Gehfรคhigkeit sich auswirkenden Funktionsstรถrungen der unteren GliedmaรŸen keinen Teil-GdB von mindestens 40 bedingen, aber aufgrund einer negativen Wechselwirkung von orthopรคdischen, internistischen und neurologischen Erkrankungen die Gehfรคhigkeit derart limitiert wird, dass eine Gehstrecke von 2 km nicht mehr innerhalb einer halben Stunde zurรผckgelegt werden kann.” (Az: L 5 SB 30/16)

Was bedeutet das Urteil fรผr Betroffene?

Wenn Ihnen dieses Merkzeichen verweigert wird, entgehen Ihnen Nachteilsausgleiche. Bei einem Merkzeichen G sind das Vergรผnstigungen im รถffentlichen Nah- und Fernverkehr oder der KFZ-Steuer. Beim Bรผrgergeld rechtfertigt es einen Mehrbedarf von 17 Prozent und ebenso bei der Grundsicherung im Alter.

Betroffene sollten also Bescheide der zustรคndigen Behรถrde genau prรผfen und im Zweifel rechtliche Hilfe in Anspruch nehmen. In diesem Fall zeigte sich nรคmlich, dass die Behรถrde ihre eigenen Gesetze ebenso wenig zur Kenntnis nahm wie die eindeutigen Gerichtsurteile zum Thema.