Wer den Schwerbehindertenstatus nach einer Tumor- oder schweren Erkrankung hat, muss nicht automatisch mit einer Herabstufung rechnen. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg stellte klar: Der Grad der Behinderung (GdB) sinkt nicht allein, weil eine „Heilungsbewährung“ endet. Entscheidend bleibt die individuelle Befund- und Funktionslage.
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Keine Automatismen: Einzelfall entscheidet über den GdB
Die Richter untersagten pauschale Kürzungen nach dem Ablauf typischer Fristen. Heilungsbewährung meint einen Zeitraum, in dem der Verlauf stabil beobachtet wird. Das Ende dieser Phase rechtfertigt keine automatische GdB-Reduktion. Maßgeblich sind aktuelle Befunde, Therapien und die konkreten Teilhabeeinschränkungen.
Die Behörde muss zeigen, dass sich die Funktionsfolgen wesentlich verbessert haben. Ohne belastbare Veränderung bleibt der bisherige GdB bestehen.
Der Fall: Berufung ohne Erfolg, Einzelfallprüfung bestätigt
Im Verfahren L 8 SB 2393/24 stritten die Beteiligten über den Gesamt-GdB in mehreren Zeiträumen. Die Verwaltung hatte einzelne Funktionsbeeinträchtigungen bewertet und daraus einen Gesamt-GdB von 20 gebildet. Die Klägerseite verlangte mindestens 30. Das Sozialgericht wies die Klage ab.
Das Landessozialgericht bestätigte die Entscheidung. Der Senat prüfte alle Gesundheitsstörungen und ihre Auswirkungen getrennt nach Zeitabschnitten. Er bewertete die aktuelle Lage jeweils neu und bildete den Gesamt-GdB nach einer Gesamtschau.
Eine „Rechenaufgabe“ aus Einzelwerten lehnte das Gericht ab.
Gesamt-GdB entsteht nicht durch Addition von Einzel-GdB
Der Gesamt-GdB ist keine Summe. Einzel-GdB zeigen die Schwere einzelner Leiden. Für den Gesamtwert zählt jedoch, wie die Beeinträchtigungen zusammenwirken. Dabei spielen Überschneidungen und Kompensationen eine Rolle.
Der Senat nutzte seine richterliche Erfahrung und ordnete die Auswirkungen ein. Einzelwerte mit geringem Gewicht erhöhen den Gesamt-GdB oft nicht. Entscheidend ist die Funktionslast im Alltag. Diese Linie stärkt die Konsistenz der Begutachtung.
Heilungsbewährung verlangt aktuelle Medizin, nicht die Stoppuhr
Heilungsbewährung ist ein Steuerungsinstrument. Sie soll Zeit für Verlaufskontrolle schaffen. Sie ersetzt aber keine Untersuchung. Für eine Herabstufung braucht es belastbare medizinische Veränderungen. Dazu gehören fachärztliche Berichte, Reha-Ergebnisse und nachvollziehbare Funktionsprüfungen.
Subjektive Rezidivangst hält einen hohen GdB nicht automatisch. Umgekehrt beseitigt der Fristablauf nicht von selbst schwere Spätfolgen. Polyneuropathien, Fatigue oder kognitive Defizite können fortbestehen. Diese Folgen sichern den GdB, wenn sie belegt sind.
Rechtlicher Rahmen: § 152 SGB IX und Versorgungsmedizin-Grundsätze
Die Feststellung des GdB richtet sich nach § 152 SGB IX. Die Versorgungsmedizin-Grundsätze (VMG) geben Anhaltswerte vor. Teil A beschreibt methodische Regeln. Teil B enthält Einzelrichtwerte. Das Gericht betont die Bindung an die individuelle Funktionslage.
Diagnosen sind Ausgangspunkte, aber nicht das Ergebnis. Eine Herabsetzung setzt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse voraus. Rückwirkungen sind in der Regel ausgeschlossen. Herabsetzungen wirken grundsätzlich für die Zukunft.
Folgen für Bescheide: Verwaltung braucht belastbare Begründungen
Behörden dürfen den GdB nicht schematisch kürzen. Sie müssen aktuelle Unterlagen einholen und würdigen. Entscheidend sind die Auswirkungen auf Teilhabe und Belastbarkeit. Pauschale Begründungen genügen nicht. Wer eine Herabstufung erhält, sollte die Unterlagen prüfen.
Weisen Sie auf fehlende oder veraltete Befunde hin. Legen Sie aktuelle Arztberichte vor. Verlangen Sie eine nachvollziehbare Gesamtwürdigung.
Ihre Handlungsmöglichkeiten bei Herabstufung
Wenn Sie betroffen sind, handeln Sie zügig. Prüfen Sie die Rechtsbehelfsfrist. Legen Sie Widerspruch mit kurzer Begründung ein. Fordern Sie Akteneinsicht an. Reichen Sie aktuelle Fachberichte nach. Dokumentieren Sie Alltagseinschränkungen.
Beschreiben Sie Belastungen, Pausenbedarf und Ausfälle. Bitten Sie bei Bedarf um eine erneute, umfassende Untersuchung. Verweisen Sie auf fortbestehende Spätfolgen. Fordern Sie eine Bewertung nach der Gesamtschau der Auswirkungen.
Bedeutung für Neuanträge und Überprüfungen
Nutzen Sie die Einzelfalllinie frühzeitig. Stellen Sie Anträge mit aktuellen Befunden. Legen Sie Reha-Entlassungsberichte und Therapieverläufe bei. Erklären Sie, wie mehrere Leiden zusammenwirken.
Achten Sie auf zeitliche Abschnitte. Zeigen Sie, wann Verbesserungen eintraten und wann Rückschläge folgten. So erhöhen Sie die Nachvollziehbarkeit. Die Verwaltung muss die medizinische Wirklichkeit abbilden. Starre Schemata reichen nicht.
Ausblick: Klarere Regeln stärken die Einzelfallgerechtigkeit
Die Rechtsprechung verdichtet die Anforderungen. Verwaltung und Gerichte rücken die funktionalen Folgen in den Mittelpunkt. Heilungsbewährung bleibt ein wichtiges Instrument. Sie ist jedoch kein Automatismus für Kürzungen. Für Betroffene steigt die Planbarkeit.
Wer aktuelle, aussagekräftige Befunde vorlegt, verbessert seine Position. Die Entscheidung stärkt damit die Einzelfallgerechtigkeit im Schwerbehindertenrecht.