Schwerbehinderung: Grad der Behinderung auch rückwirkend

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Wird der Grad der Behinderung auch rückwirkend festgestellt? Ein Grad der Behinderung (GdB) gilt grundsätzlich dann, wenn das zuständige Amt ihn festgestellt hat. Ein GdB kann zwar unter ganz bestimmten Umständen auch rückwirkend anerkannt werden. Doch dafür muss ein besonderes Interesse vorliegen, wie ein Urteil des Landesgerichts Baden-Württemberg unterstreicht. (L 6 SB 4715/ 17)

Behinderung ab der Geburt

Im Gerichtsverfahren ging es um eine Frau, die geklagt hatte, weil sie rückwirkend ab ihrer Geburt einen Grad der Behinderung von mindestens 70 forderte.

Morbus Crohn und Grad der Behinderung von 30

Die Betroffene kam 1971 zur Welt. 2004 beantragte sie erstmals die Feststellung eines Grades der Behinderung und gab als ursächliche Einschränkung eine Erkrankung mit Morbus Crohn an. Morbus Crohn, auch als Crohn-Krankheit bekannt, ist eine chronisch-entzündliche Darmkrankheit. Dabei entzündet sich die gesamte Darmwand (und nicht nur die Darmschleimhaut). Betroffene leiden an häufigen Durchfällen und Bauchkrämpfen.

Eine mittelschwere Auswirkung dieser Erkrankung rechtfertigt einen Grad der Behinderung von 30 oder 40. Die Betroffene bekam wegen der durch Morbus Crohn verursachten Einschränkungen einen Grad der Behinderung von 30 anerkannt.

Damit konnte sie nicht die Nachteilsausgleiche einer Schwerbehinderung beanspruchen, denn eine Schwerbehinderung gilt erst ab einem Grad der Behinderung von 50. Sie hätte allerdings die Möglichkeit gehabt, am Arbeitsplatz mit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt zu werden, wenn sie nachweislich in vergleichbarem Ausmaß von der Teilhabe ausgeschlossen gewesen wäre.

Asperger-Syndrom seit der Geburt

Jahre später stellten Mediziner allerdings fest, dass bei der Betroffenen seit ihrer Geburt ein Asperger-Syndrom besteht. Das Asperger-Syndrom kann einen Grad der Behinderung bedingen, wenn die Symptome die Betroffenen in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschränken.
Bei leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten gilt bei Asperger ein Grad der Behinderung von 30 bis 40, bei mittleren von 50 bis 70, und bei schweren von 80 bis 100. Selbst, wenn Betroffene keine Probleme haben, sich sozial anzupassen, ist immer noch ein Grad der Behinderung von zehn bis 20 gerechtfertigt.

2009 stellte die Betroffene einen neuen Antrag auf zurückwirkende Feststellung einer Schwerbehinderung. Sie argumentierte, sie wegen dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörung seit ihrer frühen Kindheit benachteiligt gewesen sei.

Betroffene scheitert vor Gericht

Sowohl das Sozialgericht Karlsruhe wie das Landessozialgericht Baden-Württemberg wiesen die Klage ab.
Das Landessozialgericht begründete dies damit, dass sich der ursprüngliche Antrag ausschließlich auf Morbus Crohn beschränkt hätte. Die Betroffene hätte 2004 noch nichts von ihrem Asperger-Syndrom gewusst, weil dazu noch keine Diagnose vorgelegen hätte.
Außerdem gebe es kein hinreichendes besonderes Interesse dafür, in diesem Fall rückwirkend einen Grad der Behinderung festzustellen. Dafür reichten rechtlich weder mögliche Steuervorteile noch eine „Wiedergutmachung“ aus.

Was geht aus dem Urteil hervor?

Das Urteil macht zwei Punkte deutlich, die für Sie sehr wichtig sind, wenn es um die rückwirkende Feststellung eines Grades der Behinderung geht. Zuerst einmal gilt, dass die Feststellung eines GdB grundsätzlich nur möglich ist ab dem Zeitpunkt der Antragstellung.

Eine rückwirkende Vorstellung ist also nur als Ausnahme und unter ganz bestuimmten Bedingungen möglich. Erstens muss ein besonderes Interesse vorliegen und zweitens muss glaubhaft gemacht werden, dass für den entsprechenden Zeitraum der Vergangenheit die Teilhabe wegen der Einschränkungen wesentlich beeinträchtigt war.

Worauf müssen Sie achten?

Wenn Sie fordern, rückwirkend einen Grad der Behinderung anzuerkennen, dann muss dieser mindestens so gut belegt sein wie ein gegenwärtiger Grad der Behinderung. Sie benötigen also aussagekräftige medizinische Befunde, ärztliche Gutachten und Atteste, die beweisen oder zumindest stark darauf hindeuten, dass Sie in der Vergangenheit durch die Einschränkung an der gesellschaftlichen Teilhabe beeinträchtigt waren.

Zudem müssen Sie ein besonderes Interesse nachweisen. Der Paragraf 152 des Sozialgesetzbuches IX sagt deutlich: „Wenn ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird, kann auf Antrag ein Grad der Behinderung oder gesundheitliche Merkmale (Merkzeichen) bereits zu einem früheren Zeitpunkt festgestellt werden.“

Mit anderen Worten: Das besondere Interesse ist sogar die Voraussetzung, um überhaupt zu prüfen, ob in der Vergangenheit ein Grad der Behinderung vorlag.

Was bedeutet besonderes Interesse?

Besonderes Interesse bedeutet wesentliche finanzielle und rechtliche Vorteile durch die rückwirkende Anerkennung. Das kann der Zugang zur abschlagsfreien Rente für schwerbehinderte Menschen sein, die Zuerkennung eines Pauschbetrags, sowie Einkommens- und Steuervergünstigungen.

Entscheidend ist dabei etwas, das in diesem Fall nicht zutraf. Diese Vorteile müssen ganz konkret durch eine rückwirkende Feststellung des Grades der Behinderung in Betracht kommen.