Ein 1951 geborener Versicherter mit einem Grad der Behinderung von 60 beantragte nach Altersteilzeit mit 60 Jahren die Altersrente fรผr schwerbehinderte Menschen. Obwohl die Wartezeit von 45 Jahren bereits erfรผllt war, setzte die Rentenversicherung einen Abschlag von insgesamt 10,8 % fest โ entsprechend 36 Monaten vorzeitiger Inanspruchnahme.
Der Betroffene wehrte sich mit dem Argument, jahrzehntelange Beitragsleistung mรผsse eine abschlagsfreie Rente sichern. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Wรผrttemberg bestรคtigte jedoch die Kรผrzung: Auch schwerbehinderte Menschen mรผssen die gesetzlich geregelten Abschlรคge tragen, wenn sie frรผher in Rente gehen (Urteil Az. L 7 R 5354/14).
Inhaltsverzeichnis
Zugangsfaktor und die 0,3-Prozent-Regel
Inhalt des Streits ist der sogenannte Zugangsfaktor in ยง 77 SGB VI. Er bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Rentenberechnung berรผcksichtigt werden.
Fรผr jeden Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme sinkt der Zugangsfaktor um 0,003 โ das entspricht 0,3 % pro Monat. Bei 36 Monaten Vorziehung ergibt sich so der vielzitierte Abschlag von 10,8 % (Zugangsfaktor 0,892). Diese Systematik gilt rentenartรผbergreifend und ist seit Jahren gefestigter Rechtsrahmen.
Keine Hintertรผr: Ein Wechsel der Rentenart nach Beginn ist ausgeschlossen
Besonders folgenreich ist die Sperrwirkung des ยง 34 SGB VI: Nach bindender Bewilligung einer Altersrente ist ein spรคterer Wechsel in eine andere Rentenart โ etwa in die oftmals gรผnstigere Altersrente fรผr besonders langjรคhrig Versicherte โ grundsรคtzlich ausgeschlossen.
Diese โEinbahnstraรeโ war schon in der alten Fassung (ยง 34 Abs. 4 Nr. 3 a. F.) angelegt und findet sich heute in ยง 34 Abs. 2 SGB VI. Die Verwaltungspraxis der Deutschen Rentenversicherung bekrรคftigt diese Linie, Ausnahmen sind eng begrenzt.
Vertrauensschutz: Wer profitiert โ und wer nicht
Der hรคufig angefรผhrte Vertrauensschutz greift nur in eng umrissenen Konstellationen. ยง 237 Abs. 5 SGB VI schรผtzt insbesondere Personen, die vor dem 1. Januar 2004 Altersteilzeit verbindlich vereinbart hatten oder deren Arbeitsverhรคltnis bereits damals entsprechend angelegt war.
Wer โ wie im entschiedenen Fall โ erst nach 2004 Altersteilzeit vereinbarte, kann sich auf diese Ausnahme nicht berufen. Das bestรคtigen sowohl Gesetzesmaterialien als auch die Auslegung durch die Rentenversicherung und die Rechtsprechung.
Wichtige Abgrenzung: Schwerbehindertenrente vs. โ45-Jahre-Renteโ
Die Altersrente fรผr schwerbehinderte Menschen (ยง 236a SGB VI) ist von der Altersrente fรผr besonders langjรคhrig Versicherte โ umgangssprachlich โRente mit 63โ bei 45 Jahren โ strikt zu trennen (ยง 236b SGB VI). Erfรผllt man 45 Jahre, erรถffnet dies zu einem bestimmten Alter die Mรถglichkeit einer abschlagsfreien Rente fรผr besonders langjรคhrig Versicherte; wer jedoch zuvor eine andere Altersrente in Anspruch nimmt, bleibt an deren Zugangsfaktor gebunden und kann spรคter nicht โumsattelnโ. Genau diese Konstellation hat die Rechtsprechung mehrfach verneint.
Die Entscheidungslinie der Gerichte: Bestรคtigung auf breiter Front
Neben dem LSG-Urteil von 2015 existiert weitere Rechtsprechung des LSG Baden-Wรผrttemberg, die den Ausschluss eines spรคteren Wechsels in eine andere Altersrente โ etwa in die โ45-Jahre-Renteโ โ betont (Urteil vom 7. Juli 2016, L 7 R 273/15). Auf hรถchstrichterlicher Ebene hat das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt die Zulรคssigkeit lebenslanger Abschlรคge bei vorzeitigem Rentenbezug betont, zuletzt unter ausdrรผcklichem Hinweis auf die verfassungsgerichtliche Linie.
Verfassungsrechtliche Einordnung: Abschlรคge sind zulรคssig
Das Bundesverfassungsgericht hat die Absenkung des Zugangsfaktors bei vorzeitigem Rentenbezug mehrfach gebilligt. Die Kรผrzungen verletzen weder Eigentumsgarantie noch Gleichheitssatz, weil ihnen der systematische Ausgleichsgedanke zugrunde liegt: Wer frรผher Rente bezieht, bezieht sie lรคnger und erhรคlt dafรผr dauerhaft weniger. Das BSG verweist in seiner Rechtsprechung ausdrรผcklich auf diese verfassungsgerichtliche Rechtfertigung.
Was heiรt das fรผr die Praxis: Zeitpunkt ist Strategie
Fรผr Versicherte mit Schwerbehinderung bleibt die zentrale Stellschraube der Rentenbeginn. Ein Vorziehen um bis zu 36 Monate fรผhrt zu einem dauerhaften Abschlag von 10,8 %.
Wer hingegen die Altersrente fรผr besonders langjรคhrig Versicherte anstrebt, muss den Beginn sorgfรคltig planen und darf nicht zuvor eine andere Altersrente beziehen, wenn er die Abschlagsfreiheit wahren will. Die Entscheidung wirkt endgรผltig โ ein spรคterer Wechsel ist im Regelfall versperrt. Frรผhzeitige Beratung und ein Vergleich der mรถglichen Rentenbeginne sind deshalb wichtigl.
Einordnung des Einzelfalls: Warum der Klรคger verlor
Im Fall des 1951 Geborenen lagen zwar 45 Beitragsjahre vor, maรgeblich war jedoch die gewรคhlte Rentenart und der frรผhere Rentenbeginn. Weil die Altersteilzeitvereinbarung erst nach 2004 abgeschlossen wurde, griff der Vertrauensschutz nicht.
Mit Beginn der Schwerbehindertenrente fixierte sich der Zugangsfaktor โ der spรคtere Wechsel in eine andere, gegebenenfalls gรผnstigere Altersrente war ausgeschlossen. Das LSG folgte damit stringent dem Gesetz und der stรคndigen Rechtsprechung.
Fazit
Die Botschaft ist klar: Frรผher Ruhestand bedeutet dauerhafte Abschlรคge โ auch fรผr schwerbehinderte Menschen mit jahrzehntelanger Beitragsbiografie. Das ist rechtlich klar geregelt, verfassungsgerichtlich bestรคtigt und sozialgerichtlich gefestigt. Wer die Abschlagsfreiheit anstrebt, muss den Rentenbeginn klug wรคhlen und darf sich nicht von der erfรผllten 45-Jahres-Wartezeit zu einem vorschnellen, rentenartfalschen Schritt verleiten lassen.
Hinweis: Neben dem LSG-Urteil (L 7 R 5354/14) ist auch die Entscheidung ย (L 7 R 273/15) einschlรคgig und bestรคtigt die Grundsรคtze zum Rentenwechsel und zu Abschlรคgen im Kontext vorzeitiger Altersrenten.