Rente: Gericht stoppt 79 000 € Rückforderung wegen Behördenversagen

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Die Deutsche Rentenversicherung forderte über 79 000 € zurück – nach fast 20 Jahren. Doch das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg erklärte die Bescheide für rechtswidrig. Der Grund: jahrelanges Behördenversäumnis. Das Urteil hat große Bedeutung für Renten- und Bürgergeldbezieher.

Rückforderung nach Jahrzehnten: Wie alles begann

Die Klägerin, eine Witwe und Rentenbezieherin, erhielt seit 1992 eine Witwenrente. Im Jahr 2000 nahm sie eine sozialversicherungspflichtige Arbeit auf – eine Änderung, die ihre Rentenhöhe hätte beeinflussen müssen. Denn Einkommen wird laut § 97 SGB VI bei Witwenrenten grundsätzlich angerechnet. Doch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) reagierte nicht. Kein Datenabgleich, keine Nachfragen. Fast 20 Jahre lang blieb die Einkommensprüfung aus – obwohl der DRV bereits in den 1990er Jahren bekannt war, dass die Frau Leistungen wie Arbeitslosenhilfe bezog.

Erst 2019 entdeckte die DRV durch einen Abgleich der Rentenkonten, dass die Klägerin durchgehend erwerbstätig gewesen war. Sie berechnete die Rente rückwirkend neu und verlangte mit zwei Bescheiden aus den Jahren 2019 und 2020 eine Rückzahlung von insgesamt 79 000 €. Die Frau legte Widerspruch ein, verlor jedoch zunächst vor dem Sozialgericht Berlin. Erst in der Berufung entschied das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zu ihren Gunsten.

§ 48 SGB X im Fokus: Wann Rückforderungen scheitern

Zentral für die Entscheidung war die Frage, ob die DRV bei der Rückforderung ordnungsgemäß gehandelt hatte. Denn ursprünglich hatte die Rentenkasse den Rückforderungsbescheid auf § 45 SGB X gestützt, der die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte regelt. Im Verlauf wechselte sie jedoch auf § 48 SGB X, der bei geänderten Verhältnissen zur Anwendung kommt. Dieser Unterschied ist nicht nur juristische Feinheit – er hat große Auswirkungen auf die Frage, wie streng eine Rückforderung geprüft werden muss.

Bei § 48 SGB X muss die Behörde prüfen, ob ein sogenannter „atypischer Fall“ vorliegt. In einem solchen Fall darf eine Rückforderung nur nach sorgfältiger Ermessensausübung erfolgen. Und genau das war im konkreten Fall nicht passiert. Die DRV hatte in ihren Bescheiden lediglich erklärt, es liege „kein Mitverschulden“ ihrerseits vor – mehr nicht. Diese pauschale Aussage wurde vom Gericht als Ermessensfehler gewertet. Das Landessozialgericht sprach von einem „Ermessensausfall“, also einer rechtswidrigen Vermeidung der gesetzlich geforderten Einzelfallabwägung.

Untätige Behörde: Warum Mitverschulden hier entscheidend war

Die Richter befassten sich intensiv mit dem Verhalten der DRV. Über fast zwei Jahrzehnte hinweg hatte die Rentenversicherung keine Überprüfung der Einkommensverhältnisse vorgenommen – obwohl sie die Akten der Klägerin regelmäßig im Zusammenhang mit der Halbwaisenrente der Kinder prüfte. Auch war bekannt, dass die Frau arbeitslos gemeldet war – ein naheliegender Anlass zur späteren Nachfrage. Trotzdem unternahm die DRV nichts. Diese Untätigkeit sei mitursächlich für die Rentenüberzahlung, so das Gericht. Und weil die Behörde dieses eigene Verhalten nicht in ihre Abwägung einbezogen hatte, wurden die Rückforderungsbescheide aufgehoben.

Der Leitsatz des Urteils bringt es auf den Punkt: „Behördliches Unterlassen ist als abwägungsrelevanter Belang in die Ermessensentscheidung über die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts einzustellen, wenn von § 45 auf § 48 SGB X gewechselt wird.“ Damit ist klar: Die Behörde muss ihr eigenes Verhalten kritisch prüfen – und kann nicht allein auf die Mitwirkungspflicht der Betroffenen verweisen.

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Ermessensfehler DRV: Warum eine Begründung mehr sein muss als eine Floskel

Ein weiterer Kritikpunkt des Gerichts war die oberflächliche Begründung der Rückforderung. Die DRV führte lediglich aus, dass ihr „kein Mitverschulden“ angelastet werden könne – ohne Erläuterung, warum. Das LSG erklärte, dass dies keine ausreichende Ausübung des gebotenen Ermessens sei. Eine bloße Standardformulierung genüge nicht, wenn ein atypischer Fall vorliege. Gerade der lange Zeitraum der Untätigkeit und die besondere Lebenssituation der Klägerin – unter anderem Alter und fehlende Schulung in Rentenfragen – hätten laut Gericht eine intensive Auseinandersetzung verlangt.

Ohne eine nachvollziehbare, fallbezogene Begründung verletzt die Behörde ihre Pflicht zur pflichtgemäßen Ermessensausübung. Dieser sogenannte Ermessensausfall ist ein klassischer Rechtsfehler und führt zur Aufhebung des Bescheids.

Rentenüberzahlung: Wann das Verböserungsverbot greift

Neben dem Ermessensfehler stellte das Gericht auch einen Verstoß gegen das sogenannte Verböserungsverbot fest. Denn im Februar 2020 hatte die DRV die Rückforderung nochmals erhöht – obwohl bereits im September 2019 eine vollständige Rückforderung festgesetzt worden war. Eine nachträgliche Verschärfung ist laut § 45 SGB X nur unter engen Voraussetzungen zulässig – etwa wenn der ursprüngliche Bescheid aufgehoben wird. Das war hier nicht der Fall.

Die Klägerin durfte also darauf vertrauen, dass die im ersten Bescheid genannte Rückforderung endgültig war. Eine nachträgliche Korrektur zu Ihren Lasten ohne ordnungsgemäße Rücknahme ist unzulässig. Auch dieser Punkt trug zur vollständigen Aufhebung des zweiten Bescheids bei.

Bedeutung für Bürgergeld und Wohngeldempfänger: Ein Signal aus Brandenburg

Ob Witwenrente oder Bürgergeld – das Urteil betrifft alle Leistungen, bei denen § 48 SGB X angewendet wird. Denn der Paragraf ist nicht auf die Rentenversicherung beschränkt. Er gilt auch bei Wohngeld, ALG I und II sowie bei Sozialhilfe. Immer dann, wenn sich nachträglich die Verhältnisse ändern – etwa durch Einkommen, Erbschaften oder Zusammenzüge – und die Behörde rückwirkend Leistungen streichen oder Geld zurückfordert, muss sie auch ihr eigenes Verhalten prüfen.

Das Urteil macht klar: Auch Behörden sind zur Sorgfalt verpflichtet. Wer über Jahre keine Überprüfung vornimmt, darf sich am Ende nicht auf einseitige Pflichtverletzungen der Betroffenen berufen. Das stärkt die Rechte von Leistungsbeziehern – insbesondere, wenn sie sich in schwierigen Lebenslagen befinden und von Verwaltungsverfahren überfordert sind.

Rückforderung erhalten? So können Betroffene reagieren

Wenn Sie selbst von einer Rückforderung betroffen sind – egal ob bei Rente, Bürgergeld oder Wohngeld – sollten Sie den Bescheid genau prüfen. Häufig fehlen in den Bescheiden konkrete Ausführungen zur Ermessensausübung. Achten Sie darauf, ob dort nur formelhafte Begründungen stehen. Dann könnten auch Sie sich auf das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg berufen.

Zudem lohnt sich die Frage, ob die Behörde Hinweise auf geänderte Verhältnisse hatte – zum Beispiel durch frühere Meldungen, Datenabgleich oder interne Aktenvermerke. Wenn solche Informationen über Jahre ignoriert wurden, handelt es sich möglicherweise um ein „behördliches Unterlassen“, das Ihre Rückforderung rechtlich angreifbar macht.

Auch eine nachträgliche Erhöhung der Forderung kann unzulässig sein. Wurde der Rückforderungsbetrag ohne neue Rechtsgrundlage einfach nach oben korrigiert, könnte das Verbesserungsverbot verletzt sein.

BSG-Revision steht aus: Wie geht es im Fall weiter?

Die DRV hat das Urteil nicht akzeptiert und Revision eingelegt. Das Verfahren liegt nun beim Bundessozialgericht in Kassel unter dem Aktenzeichen B 5 R 1/25 R. Wann das BSG entscheidet, ist derzeit offen. Doch schon jetzt ist klar: Sollte das Urteil bestätigt werden, hätte das erhebliche Folgen – auch über Rentenangelegenheiten hinaus. Denn dann müsste bei Rückforderungen bundesweit geprüft werden, ob ein behördliches Versäumnis vorliegt.

Das stärkt die Position aller, die sich gegen Rückforderungen wehren. Umso wichtiger ist es, Fristen einzuhalten und rechtzeitig Widerspruch einzulegen. Schon heute können Sie sich auf die Argumente des LSG berufen – und so möglicherweise eine Rückforderung stoppen oder zumindest abschwächen.