Leistungseinstellung von Asylbewerberleistungen höchst wahrscheinlich verfassungswidrig

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Die im Herbst 2024 eingeführte Neufassung des § 1 Abs. 4 Asylbewerberleistungsgesetzes trifft eine Gruppe: ausreisepflichtige Personen, deren Asylantrag vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als „unzulässig“ abgelehnt wurde, weil ein anderer Dublin-Staat für das Verfahren zuständig ist oder dort schon Schutz gewährt hat. Für sie sieht der Paragraf – jenseits einer zweiwöchigen Überbrückungsphase – den völligen Entzug sämtlicher existenzsichernder Leistungen vor.

Wie kam es zu der umstrittenen Neuregelung?

Der Leistungsausschluss ist Teil des sogenannten „Sicherheitspakets“, das am 31. Oktober 2024 in Kraft trat.

Mit der Reform wurde der frühere Kürzungstatbestand des § 1a Abs. 7 AsylbLG gestrichen und durch den nun deutlich schärferen Ausschluss ersetzt. Der Gesetzgeber begründete dies damit, Anreize zur „freiwilligen“ Ausreise schaffen zu wollen – Kritikerinnen und Kritiker sprechen von einem migrationspolitisch motivierten Verstoß gegen elementare Grund- und Menschenrechte.

Welche Folgen hat die vollständige Leistungssperre?

Nach Ablauf der kurzen Überbrückungsfrist erhalten Betroffene weder Geld- noch Sachleistungen; Kleidung, Hausrat oder weitergehende Gesundheitsversorgung sind gesetzlich ausgeschlossen. Erwachsene könnten damit buchstäblich ohne Wohnung, Nahrung oder medizinische Hilfe auf die Straße gesetzt werden.

Selbst die viel kritisierte Minimalversorgung des AsylbLG („Bett, Brot, Seife“) fällt weg – ein Szenario, das Hilfsorganisationen als „geplante Verelendung“ bezeichnen.

Warum halten Gerichte den neuen Paragrafen für europarechts- und verfassungswidrig?

Mehrere Sozialgerichte zweifeln an der Vereinbarkeit der Regelung mit dem unionsrechtlich garantierten Anspruch auf einen „angemessenen Lebensstandard“ in der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU. Gleichzeitig sehen sie einen Verstoß gegen das im Grundgesetz verankerte Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das das Bundesverfassungsgericht 2012 ausdrücklich als migrationspolitisch „nicht relativierbar“ bezeichnet hat.

Welche Rolle spielt die EU-Aufnahmerichtlinie konkret?

Artikel 20 der Richtlinie erlaubt Sanktionen nur in eng eingegrenzten Ausnahmefällen und verlangt stets eine Verhältnismäßigkeitsprüfung; eine pauschale Totalstreichung für ganze Personengruppen ist nicht vorgesehen.

Sozialgerichte verweisen darauf, dass nationale Stellen eine offensichtlich unionsrechtswidrige Norm unangewendet lassen müssen, ohne den EuGH erst um Vorabentscheidung zu ersuchen – eine Pflicht, die nach dem EuGH-Urteil Kücükdeveci auch Behörden trifft.

Welche formellen Fehler machen die Behörden besonders häufig?

Neben der materiellen Rechtswidrigkeit beanstanden Gerichte regelmäßig Verfahrensmängel. Häufig fehlt eine ordnungsgemäße Anhörung nach § 28 VwVfG oder es wird kein rechtsmittelfähiger, begründeter Bescheid erlassen. Schon diese Versäumnisse genügen, um die Leistungseinstellung vorläufig zu stoppen.

Wie reagieren die Sozialgerichte seit Ende 2024?

Den Auftakt machte das Sozialgericht Landshut, das am 18. Dezember 2024 den Ausschluss mangels Feststellung einer „rechtlich und tatsächlich möglichen Ausreise“ außer Kraft setzte.

Kurz darauf folgten Beschlüsse in Darmstadt, Karlsruhe und Nürnberg. Alle Gerichte ordneten an, dass Betroffenen bis zur Hauptsacheentscheidung wieder Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG zustehen.

Was bedeutet der jüngste Beschluss des Sozialgerichts Gießen?

Mit Beschluss vom 9. April 2025 (S 30 AY 28/25 ER) erklärte das SG Gießen den Leistungsausschluss „wahrscheinlich sowohl europarechtswidrig als auch verfassungswidrig“ und wies die Behörde an, die Leistungen weiterzuzahlen. Eine zweite Entscheidung derselben Kammer vom 14. April 2025 bekräftigte die Linie und bewilligte gleichzeitig Prozesskostenhilfe. Die Beschlüsse markieren eine deutliche Trendwende zugunsten der Betroffenen.

Welche Schritte müssen Betroffene ergreifen, um ihr Existenzminimum zu sichern?

Anwälte raten, sofort Widerspruch gegen den Einstellungs- oder Kürzungsbescheid einzulegen und zeitgleich einen Eilantrag beim zuständigen Sozialgericht zu stellen.

Lehnt die Behörde den Widerspruch später ab, sollte Klage erhoben werden, damit das Gericht die Rechtsfrage in der Hauptsache klärt. Verfahren vor den Sozialgerichten sind gebührenfrei, und Anwalts- sowie Gutachterkosten können über Prozesskostenhilfe gedeckt werden.

Wo finden Betroffene praktische Unterstützung?

Unabhängige Beratungsstellen wie die GGUA, die Flüchtlingsräte der Länder und die Plattform „zusammenland.de“ vermitteln erfahrene Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Dort finden sich zudem Mustertexte für Widersprüche und Eilanträge sowie mehrsprachige Handreichungen zum Ablauf vor Gericht. Die Beratungsstellen begleiten häufig auch die soziale Absicherung während des Verfahrens.

Welche größeren verfassungs- und europarechtlichen Konsequenzen sind zu erwarten?

Sollte sich die erstinstanzliche Rechtsprechung verfestigen, droht dem Leistungsausschluss das frühe Aus: Höchstgerichte könnten ihn entweder für unanwendbar erklären oder den Gesetzgeber zu einer verfassungskonformen Neuregelung verpflichten.

Parallel läuft auf EU-Ebene die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems; auch dort finden Totalentzüge sozialer Leistungen keine Mehrheit. Es ist daher wahrscheinlich, dass § 1 Abs. 4 AsylbLG in seiner heutigen Form nicht bestehen bleibt.

Wie geht es jetzt weiter?

In den kommenden Monaten wird erwartet, dass weitere Eilverfahren bei den Landessozialgerichten eingehen. Beobachter rechnen zudem mit einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof, um die offenen Grundsatzfragen verbindlich zu klären.

Bis dahin bleibt: Jede einzelne Einstellungs- oder Kürzungsverfügung sollte sofort rechtlich angegriffen werden – die Erfolgsaussichten sind nach der bisherigen Rechtsprechung ausgesprochen gut.