Groรer BSG-Senat legt pragmatische Linie fรผr Revisionen fest
Im Streit um die bislang teils hohen Anforderungen an eine Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel haben sich die obersten Sozialrichter verbindlich fรผr eine pragmatische Linie ausgesprochen. Nach einem am 6. September 2018 verรถffentlichten Beschluss des Groรen Senats des BSG mรผssen fรผr eine โSachrรผge” nicht sรคmtliche von der Vorinstanz festgestellte Tatsachen aufgefรผhrt werden, sondern nur, โsoweit dies zum Verstรคndnis der gerรผgten Rechtsverletzung unerlรคsslich ist” (Az.: GS 1/17).
Bei einer Sachrรผge geht es um inhaltliche Fragen, insbesondere auch um eine mรถglicherweise falsche Auslegung der Gesetze oder anderer Vorschriften in dem angegriffenen Urteil. Nicht unmittelbar betroffen von dem Kasseler Beschluss ist demgegenรผber die Verfahrensrรผge wegen Verstรถรen gegen formelle Verfahrensrechte, etwa das Recht auf rechtliches Gehรถr. Die Anforderungen an eine Revision waren hier im BSG aber auch nie stark umstritten.
Wie bei allen Gerichtshรถfen des Bundes ist die Revision zum BSG an bestimmte gesetzliche Anforderungen geknรผpft. Um deren Auslegung gibt es im BSG seit Jahren Streit. Einige Senate waren sehr streng, andere haben versucht, pragmatisch รผber formale Hรผrden hinwegzukommen, wenn es inhaltlich um offene Rechtsfragen von bundesweiter Bedeutung geht.
Nun hatte erstmals der fรผr die gesetzliche Krankenversicherung zustรคndige 1. BSG-Senat dem โGroรen Senat” des BSG Fragen zur Revisionszulassung vorgelegt. Dort sind die Vorsitzenden aller Senate vertreten, seine Entscheidungen sind fรผr das gesamte BSG verbindlich.
Im Streitfall geht es um die Frage, ob die Krankenkasse des Klรคgers ihm eine Immuntherapie gegen Krebs mit sogenannten autologen dendritischen Zellen bezahlen muss. Die Kasse verweist ihn auf die รผbliche Chemotherapie.
Das Sozialgericht Ulm und das Landessozialgericht (LSG) Baden-Wรผrttemberg in Stuttgart hatten die Klage abgewiesen. Hiergegen hatte der Klรคger Revision eingelegt. Die Krankenkasse ist allerdings der Ansicht, diese sei unzulรคssig, weil sie den Begrรผndungsanforderungen nicht genรผge.
Hierzu entschied nun der Groรe BSG-Senat, dass eine Revisionsbegrรผndung unter drei Voraussetzungen den formellen Anforderungen genรผgt. Danach muss sie erstens einen Antrag enthalten und zweitens die Rechtsnorm benennen, gegen die das angegriffene Urteil nach รberzeugung des Revisionsfรผhrers verstรถรt. Drittens muss sie sich mit den hierzu von der Vorinstanz angefรผhrten Grรผnden auseinandersetzen und aufzeigen, warum diese unrichtig sein sollen.
Weiter entschied der Groรe BSG-Senat, dass aber โdie Bezeichnung von Tatsachen bei Sachrรผgen kein formelles Zulรคssigkeitserfordernis ist, sondern es der Bezeichnung von Tatsachen nur bedarf, soweit dies zum Verstรคndnis der gerรผgten Rechtsverletzung unerlรคsslich ist”.
Sprich: Die Darstellung des zugrundeliegenden Falls soll kein Selbstzweck sein. Wenn es zu einer Revision kommt, wird ohnehin selbstverstรคndlich jeder BSG-Richter die in den Vorinstanzen getroffenen Tatsachenfeststellungen lesen. In der Revision mรผssen die Tatsachen daher nur insoweit benannt werden, als es notwendig ist, die mit der Revision aufgeworfenen Rechtsfragen und die der Vorinstanz vorgeworfenen Rechtsverletzungen fallbezogen zu verstehen.
Bislang hatte ein Teil der BSG-Senate eine komplette Darstellung des gesamten festgestellten Sachverhalts gefordert. In einem Zeitschriftenaufsatz hatte dies den Vorsitzenden des 6. BSG-Senats, Ulrich Wenner, zu dem Hinweis veranlasst, dass es bei einer Revision โnicht um Schreibรผbungen oder das Fรผllen mรถglichst vieler Seiten geht”.
Wenner war Berichterstatter fรผr die nun vorliegende Entscheidung des Groรen Senats vom 13. Juni 2018, die seine auch zuvor schon von mehreren anderen Senaten geteilte pragmatische Linie fรผr das gesamte BSG verbindlich macht.
Zur Begrรผndung heiรt es in dem Kasseler Beschluss: โDer Zugang zur Revision darf aus verfassungsrechtlichen Grรผnden nicht durch Hรผrden erschwert oder vereitelt werden, die durch den Zweck der Revisionsbegrรผndung nicht gerechtfertigt sind.” Dies stehe auch โim Einklang mit der Rechtsprechung aller obersten Gerichtshรถfe des Bundes zum Revisionsrecht”.
Einen รคhnlichen Streit gibt es im BSG auch bezรผglich der Nichtzulassungsbeschwerden. Diesbezรผglich ist eine vergleichbare Vorlage an den Groรen Senat aber nicht in Sicht. Bis auf weiteres werden hier die Anforderungen daher wohl je nach Senat unterschiedlich bleiben.
mwo/fle