Viele Beschäftigte verbinden die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit einem vermeintlichen Fakt: Wer krankgeschrieben ist, gilt als arbeitsunfähig – und erhält nach Ablauf der Lohnfortzahlung automatisch Krankengeld.
Ein Verfahren vor dem Sozialgericht Mannheim zeigt jedoch, dass diese Erwartung im Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht immer aufgeht. Das Gericht bestätigte die Einstellung von Krankengeld, obwohl weiterhin Krankschreibungen vorlagen, weil nach seiner Überzeugung die konkrete Tätigkeit als Briefzustellerin wieder zumutbar möglich war.
Um was ging es in dem Verfahren konkret?
Hintergrund des Verfahrens war eine Briefzustellerin, die Anfang Januar wegen Schmerzen an der rechten Hand von ihrem Hausarzt arbeitsunfähig geschrieben wurde. Zunächst griff das übliche System: Der Arbeitgeber leistete für sechs Wochen Entgeltfortzahlung. Ab Mitte Februar zahlte die Krankenkasse Krankengeld.
Im Mai ließ die Kasse die Versicherte durch den Medizinischen Dienst begutachten; die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin ihre Tätigkeit wieder ausüben könne. Daraufhin stellte die Krankenkasse die Zahlung des Krankengeldes ein.
Die Klägerin hielt das für verfehlt und argumentierte mit den Anforderungen ihres Berufs. Sie müsse ein etwa 120 Kilogramm schweres Fahrrad schieben und Lasten bis zu 30 Kilogramm tragen. Diese körperlichen Belastungen seien nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Das Sozialgericht Mannheim (Az. S 4 KR 143/18) folgte dieser Darstellung am Ende nicht, nachdem es die behandelnden Ärzte befragt hatte. Nach deren Auskünften hatten sich die Beschwerden gebessert; die Funktion der Hand sei nicht mehr in einem Maße beeinträchtigt gewesen, das die Berufsausübung als Briefzustellerin ausschließe.
Das Gericht nahm daher an, dass spätestens ab Mitte Mai wieder Arbeitsfähigkeit vorlag – mit der Folge: kein Anspruch auf Krankengeld trotz fortbestehender Krankschreibung.
Was Krankengeld rechtlich voraussetzt – und warum es am Ende scheiterte
Krankengeld ist in der gesetzlichen Krankenversicherung an die Bedingung geknüpft, dass eine Krankheit arbeitsunfähig macht oder eine Behandlung im Krankenhaus erfolgt. Das Gesetz formuliert den Anspruch in § 44 SGB V. Damit ist nicht jede medizinische Diagnose automatisch leistungsrelevant, sondern die Auswirkung der Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit.
Hinzu kommt, dass das Krankengeld immer an eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit gekoppelt ist und der Anspruch zeitlich durch solche Feststellungen „fortgeschrieben“ wird.
§ 46 SGB V regelt diese leistungsrechtliche Anknüpfung an ärztliche Feststellungen und ihre zeitliche Wirkung. In der Praxis führt das regelmäßig zu dem Missverständnis, eine Krankschreibung sei für die Krankenkasse bindend. Tatsächlich ist sie ein sehr wichtiges Beweismittel – aber eben nicht das letzte Wort, wenn begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestehen.
Genau an dieser Stelle setzte der Mannheimer Streit an. Die Krankenkasse stützte sich auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes, das wieder Arbeitsfähigkeit annahm.
Das Gericht wiederum stützte seine Entscheidung zusätzlich auf die Auskünfte der behandelnden Ärzte, wonach die Schmerzen nachgelassen hätten und die Handfunktion nicht mehr in relevanter Weise beeinträchtigt gewesen sei. In dieser Gesamtschau sah das Gericht die Schwelle zur Arbeitsunfähigkeit als nicht mehr überschritten an.
Arbeitsunfähigkeit ist kein Gefühl, sondern eine Funktionsfrage im Beruf
Das Leistungsrecht knüpft nicht an die bloße Existenz von Beschwerden an, sondern daran, ob Versicherte ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht mehr ausführen können oder ob die Ausübung mit der Gefahr einer Verschlimmerung verbunden wäre.
Genau so definiert es die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses, die für die ärztliche Beurteilung maßgeblich ist: Entscheidend sind die Bedingungen der konkreten Tätigkeit und die daraus folgenden Anforderungen.
Dieses Verständnis erklärt, weshalb Gerichte in Krankengeldverfahren oft sehr arbeitsplatznah argumentieren. Im Fokus steht dann nicht die abstrakte Frage, ob eine Hand schmerzt, sondern ob die Hand im Zusammenspiel mit den tatsächlichen Arbeitsabläufen so eingeschränkt ist, dass der Job nicht mehr ausgeübt werden kann. In körperlich fordernden Berufen kann schon eine scheinbar kleine Funktionsstörung erhebliche Folgen haben.
Umgekehrt kann eine Besserung, die medizinisch zunächst moderat wirkt, leistungsrechtlich den Ausschlag geben, wenn die Tätigkeit wieder möglich ist. Der Mannheimer Fall ist ein Beispiel für diese strikte Funktions- und Tätigkeitsbetrachtung.
Prüfung, die die Kasse stützt – und die Kasse entscheidet
Dass Krankenkassen den Medizinischen Dienst einschalten, ist kein Ausnahmevorgang, wenn eine Arbeitsunfähigkeit länger dauert oder wenn Unterlagen Fragen offenlassen. Der Medizinische Dienst nimmt dabei sozialmedizinisch Stellung zur Arbeitsunfähigkeit.
Die Krankenkasse trifft anschließend die Entscheidung über das weitere Vorgehen, also auch über die Fortzahlung oder Einstellung von Krankengeld.
Für Betroffene ist das häufig der Moment, in dem aus einer medizinischen Situation ein Rechtskonflikt wird. Denn hier prallen zwei Perspektiven aufeinander: Die behandelnde Praxis erlebt Beschwerden, Therapieverlauf und subjektive Belastung im Alltag.
Der Medizinische Dienst bewertet demgegenüber, ob die Einschränkungen bezogen auf die konkrete Berufstätigkeit eine Arbeitsunfähigkeit begründen. Wenn sich diese Einschätzungen widersprechen, landet die Frage nicht selten vor dem Sozialgericht – das dann Beweise erhebt, Ärzte befragt und Gutachten würdigt, wie es in Mannheim geschehen ist.
Warum die Angaben zur Arbeitsbelastung trotzdem nicht „automatisch“ halfen
Bemerkenswert ist, dass die Klägerin die körperlichen Anforderungen ihres Berufs ausdrücklich schilderte. Solche Angaben sind grundsätzlich wichtig, weil Arbeitsunfähigkeit nach den Vorgaben der AU-Richtlinie und der sozialrechtlichen Praxis immer im Verhältnis zur konkreten Tätigkeit beurteilt wird.
Gerade in Berufen mit Lastenhandhabung, wiederkehrenden Bewegungsabläufen und Zeitdruck kann die Frage, was realistisch geleistet werden muss, den Ausschlag geben.
Im Mannheimer Verfahren reichte diese Schilderung dennoch nicht, weil das Gericht nach der Befragung der behandelnden Ärzte von einer Besserung ausging und die Handfunktion nicht mehr als relevant beeinträchtigt ansah.
Selbst wenn die Arbeit schwer ist, entfällt der Krankengeldanspruch, sobald das Gericht überzeugt ist, dass die Tätigkeit wieder möglich ist. Das Urteil macht deutlich, dass die Hürde nicht „schwere Arbeit“ lautet, sondern „schwere Arbeit, die wegen der konkreten gesundheitlichen Einschränkung nicht mehr machbar ist“.
Bedeutung für die Praxis: Sicherheit durch Krankschreibung gibt es, aber nicht grenzenlos
Der Fall ist vor allem ein Hinweis darauf, wie fein die Trennlinie zwischen medizinischer Behandlungssituation und leistungsrechtlicher Arbeitsunfähigkeit gezogen werden kann. Die Krankschreibung bleibt die notwendige Voraussetzung für Entgeltfortzahlung und Krankengeld im Regelfall.
Gleichzeitig zeigt das Verfahren, dass Krankenkassen bei Zweifeln prüfen dürfen und Gerichte am Ende eine eigene Überzeugung bilden, die auch gegen eine fortlaufende ärztliche Bescheinigung stehen kann.
Für Versicherte bedeutet das nicht, dass Krankschreibungen „wertlos“ wären. Es bedeutet aber, dass das Sozialrecht eine zusätzliche Ebene eröffnet: die Frage, ob die Beschwerden die konkrete Tätigkeit tatsächlich verhindern oder ob sie eine Rückkehr in den Job zulassen, möglicherweise auch begleitet durch angepasste Abläufe oder eine stufenweise Wiedereingliederung, die in der AU-Richtlinie ebenfalls als Instrument beschrieben ist.
Wo diese Grenze verläuft, wird im Streitfall nicht im Wartezimmer entschieden, sondern entlang von Befunden, Funktionsprüfungen, Tätigkeitsprofilen und der gerichtlichen Beweiswürdigung.




