Krankengeld trotz verspäteter Krankenschreibung (AU)

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Wer Krankengeld bezieht, kennt den Druck, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) nahtlos vorlegen zu müssen. Schon ein kurzer Bruch in der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit kann dazu führen, dass Krankenkassen die Leistung einstellen.

Zwei Entscheidungen des Hessischen Landessozialgerichts (1. Senat) setzen an genau dieser empfindlichen Stelle an und machen deutlich: Wenn Versicherte sich rechtzeitig um einen Termin bemühen, die Praxis aber aus organisatorischen Gründen erst später untersucht und bescheinigt, darf das Krankengeld nicht allein mit dem Hinweis auf eine „Lücke“ verweigert werden.

Warum lückenlose Arbeitsunfähigkeit in der Praxis so konfliktträchtig ist

Das Krankengeld ist eine Entgeltersatzleistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Es soll Zeiten überbrücken, in denen Versicherte wegen Krankheit nicht arbeiten können und keine Lohnfortzahlung (mehr) erhalten. An dieses System knüpft die Pflicht, die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig ärztlich feststellen zu lassen.

Im Regelfall bedeutet das: Spätestens am nächsten Werktag nach dem Ende der zuletzt bescheinigten Arbeitsunfähigkeit muss die ärztliche Folgebescheinigung vorliegen, damit der Anspruch ohne Unterbrechung weiterläuft.

In der Realität kollidiert diese strenge Taktung mit einem Versorgungsalltag, der von knappen Terminen, Urlaubszeiten, Vertretungsregelungen und überlasteten Praxen geprägt ist. Der Konflikt entsteht dann, wenn Versicherte zwar rechtzeitig handeln, aber nicht rechtzeitig „drankommen“. Genau an dieser Schnittstelle haben die hessischen Richter angesetzt.

Zwei Fälle aus Südhessen: rechtzeitig nachgefragt, aber abgewiesen

Im ersten Verfahren ging es um eine Versicherte aus dem Landkreis Darmstadt-Dieburg. Sie bezog zunächst Arbeitslosengeld, wurde im Jahr 2018 arbeitsunfähig und erhielt Krankengeld. Die Arbeitsunfähigkeit war bis zu einem Freitag bescheinigt. Am folgenden Montag, also am maßgeblichen nächsten Werktag, rief sie in der Praxis an, um noch am selben Tag einen Termin zu bekommen.

Dort erfuhr sie, dass ihr Arzt im Urlaub sei und die Vorstellung beim Vertretungsarzt erst am Mittwoch möglich sei. Dieser stellte dann die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit fest.

Ein zweites, ähnlich gelagertes Verfahren betraf eine Versicherte aus dem Odenwaldkreis. Auch sie bemühte sich telefonisch rechtzeitig um einen Termin, wurde aber aus organisatorischen Gründen von der Hausarztpraxis auf einen späteren Zeitpunkt verwiesen. In beiden Fällen lehnten die Krankenkassen die weitere Zahlung von Krankengeld ab. Die Begründung war identisch: Die Arbeitsunfähigkeit sei nicht lückenlos festgestellt worden.

Wer zumutbar alles versucht, soll nicht leer ausgehen

Das Hessische Landessozialgericht gab beiden Versicherten Recht und verurteilte die Krankenkassen zur Zahlung von Krankengeld für einen Zeitraum von fünf Monaten beziehungsweise für fast zwölf Monate. Das Gericht bestätigte zwar die grundsätzliche Anforderung, die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit spätestens am nächsten Werktag ärztlich feststellen zu lassen. Es stellte aber zugleich klar, dass es Ausnahmekonstellationen gibt, in denen eine „Bescheinigungslücke“ unschädlich sein kann.

Wichtig war für die Richter die Frage, ob die Versicherten „alles in ihrer Macht Stehende und ihnen Zumutbare“ getan hatten, um die Folgebescheinigung rechtzeitig zu erhalten.

Wenn Versicherte am maßgeblichen Tag in der Praxis anrufen und um einen Termin noch am selben Tag bitten, erfüllen sie nach dieser Sicht ihre Mitwirkungspflichten. Kommt es dann trotzdem zu einer zeitlichen Verzögerung, liegt die Ursache nicht mehr bei den Versicherten, sondern bei der Praxisorganisation.

Kein „Arzt-Hopping“ und kein Termin „auf Vorrat“: deutliche Absage an unrealistische Erwartungen

Besonders bemerkenswert ist, was das Gericht nicht verlangt. Es hält es nicht für zumutbar, dass Versicherte am entscheidenden Tag eine andere Praxis aufsuchen, nur weil die eigene Praxis keinen Termin anbietet. Die Formulierung ist unmissverständlich: Ein solches „Arzt-Hopping“ sei gesetzlich nicht erwünscht. Damit wendet sich das Gericht gegen eine Praxis, die Versicherte faktisch dazu drängt, in der akuten Situation von Arzt zu Arzt zu wechseln, nur um formale Fristen zu erfüllen.

Ebenso eindeutig ist die Absage an die Idee eines Termins „auf Vorrat“. Nach der Argumentation des Gerichts kann von Versicherten nicht verlangt werden, bereits Tage vorher vorsorglich Termine zu organisieren, nur um einer möglichen Überlastung der Praxis zuvorzukommen. Das wäre nicht nur lebensfremd, sondern würde den Versorgungsalltag weiter belasten und die Verantwortung einseitig zu den Versicherten verschieben.

Zurechnung zur Krankenkasse: Wenn die Praxis verschiebt, trägt die Kasse das Risiko

Die Entscheidungen betonen außerdem einen wichtigen Zurechnungsmaßstab. Wenn ein rechtzeitig vereinbarter Termin von der Praxis verschoben wird oder wenn die Praxis überhaupt nur einen späteren Termin anbietet, dann fällt die Verzögerung nach Auffassung der Richter in die Sphäre des Vertragsarztes.

Und weil Vertragsärzte im System der gesetzlichen Krankenversicherung eingebunden sind, wird dieses Organisationsrisiko der Krankenkasse zugerechnet.

Damit setzt das Gericht einen Kontrapunkt zur häufigen Praxis, Leistungsrisiken über formale Anforderungen auf Versicherte abzuwälzen. Wer nachweisbar rechtzeitig den Kontakt zur Praxis gesucht hat, soll nicht allein deshalb aus dem Krankengeld fallen, weil die Praxis keine kurzfristige Untersuchung ermöglicht.

AU-Richtlinie und Rückdatierung: ein Missverständnis mit Systemfolgen

Über die beiden Einzelfälle hinaus greifen die Darmstädter Richter einen strukturellen Aspekt auf: die missverständliche Formulierung der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie.

Nach Darstellung des Gerichts erweckt die AU-Richtlinie bei Vertragsärzten den Eindruck, eine zeitlich begrenzte Rückdatierung sei ausdrücklich zulässig, obwohl die gesetzliche Regelung strenger ist. Wenn daraus Fehlvorstellungen bei Ärztinnen und Ärzten entstehen, soll dies nicht zulasten der Versicherten gehen.

Hinzu kommt ein institutionelles Argument: Krankenkassen wirken als maßgebliche Akteure über den Gemeinsamen Bundesausschuss an der Ausgestaltung solcher Richtlinien mit. Wenn also die Regelwerke im Zusammenspiel von Gesetz und Richtlinie Unklarheiten erzeugen, müsse sich die gesetzliche Krankenversicherung diese Unschärfen eher zurechnen lassen, als dass Versicherte die Konsequenzen tragen.

Bedeutung für Betroffene: Mehr Rechtssicherheit, aber keine Einladung zur Nachlässigkeit

Die Urteile entlasten Versicherte in einer Lage, die viele aus eigener Erfahrung kennen: Man tut am entscheidenden Tag das Nötige, bekommt aber keinen Termin. Das Gericht macht klar, dass eine starre Formalität nicht über die materielle Wirklichkeit gestellt werden darf, wenn die Versicherten nachweislich rechtzeitig handeln.

Gleichzeitig ist die Botschaft keine Lockerung der allgemeinen Regeln. Die Pflicht, die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit zeitnah ärztlich feststellen zu lassen, bleibt bestehen. Der Unterschied liegt in der Bewertung der Ursachen einer Verzögerung. Wer sich erst nach Ablauf mehrerer Tage meldet oder gar keinen Versuch unternimmt, einen Termin zu erhalten, kann sich auf diese Rechtsprechung typischerweise nicht stützen.

Einordnung

Wenn Praxen keine kurzfristigen Termine anbieten können, ist das oft kein individuelles Fehlverhalten, sondern Folge von Überlastung, Urlaubszeiten oder knapper Personaldecke. Die Urteile legen nahe, dass solche Engpässe nicht automatisch auf Versicherte durchschlagen dürfen, indem ihnen bei formalen Lücken die Existenzsicherung entzogen wird.

Damit verschiebt sich einiges: Weg vom reflexhaften „Frist verpasst, Leistung weg“ hin zu einer Prüfung, ob Versicherte den erforderlichen Versuch unternommen haben und ob die Verzögerung tatsächlich in ihrer Verantwortung lag. Für Krankenkassen bedeutet das eine höhere Pflicht zur Einzelfallprüfung. Für Versicherte bedeutet es vor allem: Wer am richtigen Tag den Kontakt zur Praxis sucht, steht nicht automatisch ohne Krankengeld da, wenn die Praxisorganisation den Termin verhindert.

Die Aktenzeichen lauten: L 1 KR 125/20 und L 1 KR 179/20 (Hessisches Landessozialgericht)