Das Bundesarbeitsgericht zieht eine klare Grenze bei Krankmeldungen. Es hat entschieden, dass Arbeitnehmer ihren Anspruch auf Entgeltfortzahlung verlieren, wenn sie im Prozess nicht nachvollziehbar darlegen, dass eine neue Erkrankung vorliegt (5 AZR 93/22). Im Mittelpunkt stand nicht die Krankheit selbst, sondern die Frage, wie konkret Beschäftigte ihre Arbeitsunfähigkeit erklären müssen, wenn der Arbeitgeber eine Fortsetzungserkrankung behauptet.
Inhaltsverzeichnis
Was bedeutet Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall?
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bedeutet, dass Sie bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Ihren Lohn weiter erhalten, obwohl Sie nicht arbeiten. Voraussetzung ist eine unverschuldete Arbeitsunfähigkeit und ein mindestens vierwöchiges Arbeitsverhältnis. Der Arbeitgeber zahlt das regelmäßige Arbeitsentgelt für höchstens sechs Wochen je Krankheit weiter.
Der Anspruch ist krankheitsbezogen begrenzt. Tritt nach Ablauf der sechs Wochen dieselbe Krankheit erneut auf, entsteht kein neuer Anspruch, solange die gesetzlichen Sperrfristen nicht abgelaufen sind. Nur bei einer anderen Krankheit oder nach Ablauf bestimmter Fristen beginnt ein neuer Sechs-Wochen-Zeitraum.
Fortsetzungserkrankung entscheidet über neuen Lohnanspruch
Ein neuer Anspruch auf bis zu sechs Wochen Entgeltfortzahlung entsteht nur dann, wenn tatsächlich eine andere Krankheit vorliegt. Treten Beschwerden erneut auf und beruhen sie auf demselben Grundleiden, gilt die Arbeitsunfähigkeit als Fortsetzung – mit der Folge, dass kein neuer Zahlungsanspruch entsteht.
Der Fall: Gepäckabfertiger mit langer Krankheitsserie
Der Kläger arbeitete seit 2012 in der Gepäckabfertigung eines Flughafen-Dienstleisters und erhielt einen Stundenlohn von 12,56 Euro. Im Jahr 2019 war er 68 Kalendertage arbeitsunfähig, im Jahr 2020 bis Mitte August weitere 42 Kalendertage. Für diese Zeit zahlte der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung.
Streit um zehn Arbeitstage und 894,27 Euro
Nach dem 18. August 2020 verlangte der Kläger Entgeltfortzahlung für weitere zehn Arbeitstage mit insgesamt 71,2 Stunden. Daraus errechnete sich eine Forderung von 894,27 Euro brutto. Der Arbeitgeber stellte die Zahlung ein und argumentierte, die erneuten Krankmeldungen beruhten auf Fortsetzungserkrankungen. Der Sechs-Wochen-Zeitraum sei bereits ausgeschöpft, ein neuer Anspruch bestehe nicht.
Neue Krankheit muss der Arbeitnehmer erklären
Bestreitet der Arbeitgeber eine neue Erkrankung, reicht die bloße Krankschreibung nicht aus. Der Arbeitnehmer muss darlegen, warum es sich nicht um dieselbe oder eine fortgesetzte Erkrankung handelt.
Abgestufte Darlegungslast liegt klar beim Beschäftigten
Das Gericht bekräftigte die abgestufte Darlegungslast: Zunächst müssen Arbeitnehmer Tatsachen vortragen, die gegen eine Fortsetzungserkrankung sprechen. Erst dann trifft den Arbeitgeber eine weitergehende Einlassungspflicht.
Was ist der ICD-Diagnoseschlüssel?
Der ICD-Diagnoseschlüssel ist ein international einheitliches Klassifikationssystem für Krankheiten und gesundheitliche Beschwerden. Ärzte nutzen diese Codes, um Diagnosen standardisiert zu erfassen und gegenüber Krankenkassen und Behörden zu dokumentieren. Auf Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erscheinen ICD-Codes häufig in verschlüsselter Form.
Für arbeitsrechtliche Streitigkeiten hat der ICD-Code jedoch nur begrenzten Wert. Er beschreibt eine medizinische Kategorie, klärt aber nicht, ob Beschwerden auf demselben Grundleiden beruhen oder eine Fortsetzungserkrankung vorliegt. Deshalb genügt der bloße Verweis auf ICD-Codes vor Gericht nicht.
ICD-10-Codes ersetzen keinen Sachvortrag
Der Kläger stützte seinen Anspruch im Wesentlichen auf diese ICD-10-Diagnoseschlüssel und deren medizinische Bezeichnungen. Das Bundesarbeitsgericht stellte klar, dass unterschiedliche Codes eine Fortsetzungserkrankung nicht ausschließen, wenn die Beschwerden aus demselben Grundleiden stammen.
Beschwerden und Verlauf müssen konkret geschildert werden
Erforderlich ist eine laienhafte, aber nachvollziehbare Darstellung der Beschwerden, ihres Verlaufs und ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Zusätzlich müssen die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbunden werden.
Datenschutz schützt nicht vor Vortragspflichten
Der Einwand, aus Datenschutzgründen nicht alle Erkrankungen offenlegen zu müssen, blieb erfolglos. Das Gericht stellte klar, dass ohne konkrete Angaben keine rechtssichere Prüfung möglich ist.
Keine selektive Offenlegung früherer Erkrankungen
Der Kläger hatte nur ausgewählte Vorerkrankungen benannt und andere Zeiträume ausgeklammert. Diese selektive Darstellung genügte nicht, weil alle relevanten Vorzeiten in die Prüfung einbezogen werden müssen.
Gericht nimmt Fortsetzungserkrankung an
Mangels ausreichenden Vortrags ging das Bundesarbeitsgericht von Fortsetzungserkrankungen aus. Damit fehlte die Grundlage für einen neuen Entgeltfortzahlungsanspruch. Die Klage blieb ohne Erfolg. Der Kläger erhielt weder die geforderten 894,27 Euro noch Zinsen, da kein Anspruch auf weitere Entgeltfortzahlung bestand.
FAQ: Entgeltfortzahlung und Fortsetzungserkrankung
Wann entsteht ein neuer Anspruch auf Entgeltfortzahlung?
Nur bei einer neuen Krankheit oder nach Ablauf der gesetzlichen Sperrfristen.
Wer muss eine neue Erkrankung darlegen?
Der Arbeitnehmer, wenn der Arbeitgeber eine Fortsetzungserkrankung behauptet.
Reichen Krankschreibungen und ICD-Codes aus?
Nein, sie ersetzen keinen inhaltlichen Vortrag zu Beschwerden und Verlauf.
Darf man frühere Krankheiten aus Datenschutzgründen verschweigen?
Nein, wer Entgeltfortzahlung einklagt, muss prüfbare Tatsachen liefern.
Was passiert bei unvollständigem Vortrag?
Das Gericht kann von einer Fortsetzungserkrankung ausgehen, der Anspruch entfällt.
Fazit: Ohne vollständigen Vortrag kein Lohn
Das Urteil macht deutlich, dass Entgeltfortzahlung kein Selbstläufer ist. Wer nach längerer Krankheit erneut Lohn verlangt, muss offen und nachvollziehbar erklären, warum eine neue Erkrankung vorliegt. Bleibt dieser Vortrag lückenhaft, kann der Anspruch verloren gehen – selbst bei gültigen Krankschreibungen.




