Wer in Rente geht, dem geht es nicht nur um Zahlen auf einem Bescheid. Es geht vor allem um Rentensicherheit: Miete, Versicherungen, laufende Kredite, vielleicht der letzte Schritt in ein kleineres Zuhause oder schlicht die Gewissheit, dass der Übergang vom Lohn zur Rente ohne Brüche gelingt.
Genau an diesem Punkt setzt ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. November 2025 (Az. B 5 R 6/24 R) an. Die Richterinnen und Richter haben entschieden, dass eine Altersrente, die mithilfe einer Hochrechnung festgesetzt wurde, später nicht allein deshalb nach unten korrigiert werden darf, weil der Arbeitgeber nachträglich geringere tatsächliche Entgelte meldet.
Damit bekommt ein Verfahren, das eigentlich als vom Gesetzgeber gut gemeinte Brücke in den Ruhestand gedacht ist, endlich die Verlässlichkeit, die der Gesetzgeber mit ihm bezweckt hat.
Für Rentnerinnen und Rentner bedeutet das: Wer sich bei der Antragstellung auf die Hochrechnung einlässt, muss nicht damit rechnen, dass Monate später ein neuer Rentenbescheid kommt – samt Kürzung und womöglich Rückforderung.
Was bedeutet „Hochrechnung“ im Rentenrecht überhaupt?
Die gesetzliche Rente wird auf Basis der im Versicherungsleben gemeldeten und beitragspflichtigen Einnahmen berechnet.
Kurz vor Rentenbeginn entsteht dabei ein typisches Problem: Für die letzten Arbeitsmonate liegen bei Antragstellung oft noch keine endgültigen Entgeltmeldungen vor. Gleichzeitig empfiehlt die Rentenversicherung, den Antrag einige Monate vor Rentenbeginn zu stellen, damit die Zahlung pünktlich anlaufen kann.
Für genau diese Lücke sieht das Gesetz eine „gesonderte Meldung“ und eine Hochrechnung vor. Vereinfacht gesagt werden die noch fehlenden Monate vor Rentenbeginn aus den davorliegenden Entgelten rechnerisch geschätzt, damit die Rente rechtzeitig bewilligt werden kann.
Rechtsgrundlage ist § 194 SGB VI, der das Verfahren über die gesonderte Meldung und die Hochrechnung regelt. Ergänzend spielt § 70 SGB VI eine Rolle, weil dort festgelegt ist, wie Entgeltpunkte – und damit die Rentenhöhe – bei einer solchen voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahme zu behandeln sind.
Der Streitfall: Warum ein Rentner gegen eine spätere Neuberechnung klagte
Im entschiedenen Fall hatte der Kläger seine Altersrente beantragt und der Hochrechnung zugestimmt. Die Rente wurde bewilligt und lief an. Danach kam Bewegung in die Sache – nicht, weil der Kläger neue Zeiten geltend gemacht hätte, sondern weil der Arbeitgeber Entgeltmeldungen nachlieferte und korrigierte. Nach den späteren Meldungen lagen die tatsächlichen Entgelte für die letzten Monate vor Rentenbeginn zeitweise unter den hochgerechneten Werten.
Die zuständige Rentenversicherung – hier die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See – reagierte, indem sie den Rentenbescheid änderte und die Rente zwischenzeitlich niedriger festsetzte.
Später folgte nach einer weiteren Korrekturmeldung auch wieder eine höhere Festsetzung. Für den Kläger bedeutete das: Seine Rente schwankte nachträglich, obwohl er genau das durch die Hochrechnung eigentlich vermeiden wollte.
Er wehrte sich zunächst mit Widerspruch gegen die Änderungsbescheide, blieb dort aber erfolglos. Der Gang durch die Instanzen endete nicht beim Sozialgericht, sondern erst beim Bundessozialgericht – und dort mit einem klaren Ergebnis zugunsten des Rentners.
Der Weg durch die Instanzen: Sozialgericht, Landessozialgericht, Bundessozialgericht
Das Sozialgericht Lüneburg gab dem Kläger bereits am 17. Januar 2019 Recht. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen bestätigte diese Linie am 25. Januar 2024 (Az. L 1 R 61/19). In der Sache ging es dabei nicht um eine kleine Rechenfrage, sondern um die Grundentscheidung, ob die Rentenversicherung die Hochrechnung später durch „echte“ Entgelte ersetzen darf, wenn nachträgliche Meldungen abweichen.
Die Rentenversicherung legte jedoch Revision ein. Damit landete der Fall beim Bundessozialgericht in Kassel – dem höchsten Gericht der Sozialgerichtsbarkeit. Am 27. November 2025 bestätigte das BSG die Vorinstanzen und zog eine deutliche Grenze: Die Hochrechnung darf im Nachhinein nicht zur Spielmasse wechselnder Arbeitgebermeldungen werden.
Die Entscheidung aus Kassel: Abweichungen bleiben unberücksichtigt
Das Bundessozialgericht stellt sich auf den Standpunkt, dass das Gesetz die Sache bereits entschieden hat: Weicht das tatsächliche Entgelt von dem hochgerechneten ab, bleibt diese Abweichung bei der betreffenden Rentenfestsetzung außer Betracht.
Die Rentenversicherung darf die einmal gewählte Methode damit nicht nachträglich verlassen, indem sie die Hochrechnung schlicht durch die später eingetroffenen realen Werte ersetzt.
In der öffentlichen Bekanntgabe des Urteils sagten die Richter: “Wer eine hochgerechnete Rente erhält, darf sich darauf verlassen; eine rückwirkende Korrektur nach unten sei gesetzlich ausgeschlossen.”
Warum das Urteil für Versicherte so wichtig ist
Viele Rentenentscheidungen werden heute unter erheblichem Zeitdruck vorbereitet. Die Verwaltung soll pünktlich leisten, Rentner sollen pünktlich ihre Rente bekommen. Die Hochrechnung ist dafür ein Mittel, das Schnelligkeit ermöglicht, ohne den Antrag „liegen zu lassen“, bis die letzten Entgeltdaten vollständig sind.
Wenn aber genau dies später zu Unsicherheit führt, weil jede Nachmeldung eines Arbeitgebers eine neue Rentenberechnung auslösen kann, verliert das Verfahren seinen Sinn.
Aus Sicht der Betroffenen wäre es dann rational, die Hochrechnung abzulehnen – mit dem Risiko, dass der Rentenbescheid später kommt und der Übergang finanziell holprig wird. Das Urteil stärkt deshalb nicht nur einzelne Rentner, sondern die Funktionsfähigkeit eines gesamten Verwaltungsprozesses.
Praktisch heißt das: Wer kurz vor dem Rentenbeginn steht und eine Hochrechnung nutzt, muss nicht befürchten, dass Monate später eine Kürzung kommt, nur weil Entgeltmeldungen verspätet eintreffen oder mehrfach korrigiert werden. Und wer bereits eine solche Kürzung erlebt hat, bekommt durch die höchstrichterliche Klärung eine sehr gewichtige Argumentationsgrundlage.
Was das Urteil nicht sagt: Korrekturen bleiben in anderen Konstellationen möglich
Das Urteil ist kein Freibrief für „unangreifbare“ Rentenbescheide. Rentenbescheide können aus unterschiedlichen Gründen geändert werden, etwa wenn Versicherungszeiten falsch zugeordnet wurden, wenn Rechenfehler vorliegen oder wenn andere rechtliche Voraussetzungen später anders festgestellt werden. Die Entscheidung richtet sich gegen eine bestimmte Praxis: die nachträgliche Absenkung einer Rente allein dadurch, dass die Rentenversicherung die Hochrechnung im Nachhinein durch tatsächliche – niedrigere – Entgelte ersetzt.
Auch der Blick in die Instanzrechtsprechung zeigt, wie stark es dabei um die Systementscheidung des Gesetzes geht und nicht um beliebige Korrekturmöglichkeiten.
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat sich in seinem Urteil ausführlich mit dem Verhältnis zwischen Hochrechnung, späteren Entgeltkorrekturen und der Frage befasst, welche Daten überhaupt noch „austauschbar“ sind, wenn der Versicherte die Hochrechnung gewählt hat.
2027: Hochrechnung soll zur Regel werden – mit Schutz vor Absenkungen
Das Urteil kommt in einer Phase, in der der Gesetzgeber die Abläufe in der Rentenversicherung stärker automatisieren und beschleunigen will.
Im parlamentarischen Verfahren zum „SGB VI-Anpassungsgesetz“ ist vorgesehen, dass die Hochrechnung bei Altersrenten künftig im Grundsatz nicht mehr von einer Zustimmung abhängen soll. In der Begründung des Gesetzentwurfs wird ausdrücklich erläutert, dass das Zustimmungserfordernis entfallen soll und dies nach Auffassung des Gesetzgebers keinen Nachteil für Versicherte mit sich bringt, weil eine spätere höhere tatsächliche beitragspflichtige Einnahme zu einer höheren Rente führen soll – während niedrigere Werte nicht zu einer Absenkung führen sollen.
Besonders deutlich wird diese Richtung in der vorgesehenen Neufassung des § 70 Absatz 4 Satz 2: Danach soll eine Rentenneufeststellung erfolgen, wenn die tatsächlich erzielte beitragspflichtige Einnahme zu einer höheren Rente führt; im Übrigen sollen die tatsächlichen Werte außer Betracht bleiben.
Das ist im Ergebnis die gleiche Leitidee, die das Bundessozialgericht nun für die heutige Rechtslage durchgesetzt hat: Korrekturen dürfen zugunsten der Versicherten wirken, nicht zu ihren Lasten, wenn es um die hochgerechneten letzten Monate geht.
Was Betroffene jetzt aus dem Urteil ableiten können
Für künftige Rentnerinnen und Rentner liefert das Urteil vor allem Ruhe: Eine Hochrechnung dient dem pünktlichen Start der Rente und soll nicht nachträglich zu finanziellen Rückschritten führen. Wer einen Änderungsbescheid erhält, der die Rente wegen abweichender Entgeltmeldungen für den Hochrechnungszeitraum mindert, sollte deshalb sehr genau prüfen (lassen), ob die Begründung tatsächlich in dieses Muster fällt.
Für diejenigen, die bereits betroffen sind, ist die praktische Frage oft unerquicklich: Fristen, Widerspruch, Klage. Auch wenn jedes Verfahren individuell ist, macht die höchstrichterliche Klärung den rechtlichen Rahmen deutlich enger für nachträgliche Absenkungen, die allein mit späteren Arbeitgebermeldungen begründet werden. Es dürfte deshalb in vielen Fällen nicht mehr ausreichen, schlicht auf „nun vorliegende Ist-Daten“ zu verweisen, wenn zuvor bewusst eine Hochrechnung angewandt wurde.
Quellen
Herangezogen wurden die öffentliche Berichterstattung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 27. November 2025 (Az. B 5 R 6/24 R) sowie die gesetzliche Regelung zur Hochrechnung und zu den Entgeltpunkten in § 194 SGB VI und § 70 SGB VI




