Eine Kürzung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (heute Bürgergeld) wegen eines Meldeversäumnisses ist ungültig, wenn die im Bescheid erwähnte Rechtsfolgenbelehrung in die Irre führt. So entschied das Sozialgericht Hildesheim und gab damit einer Leistungsbezieherin Recht. (S 38 AS 1417/17).
Einladung zum Eingangsgespräch
Ausgangspunkt war ein Bescheid des Jobcenters vom 19.07.2017, der der Betroffenen Leistungen für den Zeitraum bis August 2018 gewährte. Mit Schreiben vom 8. Mai 2017 lud das Jobcenter die Klägerin zu einem Eingangsgespräch bei der Jobakademie Hann.Münden ein.
Das Jobcenter führte aus, dass an der Jobakademie grundsätzlich jeder teilnehme. Sie biete sofortige Unterstützung bei der Arbeitssuche. Hierzu stünden ein vollständig ausgestatteter Arbeitsplatz und alle notwendigen Materialien zur Verfügung. Ziel sei es, den Lebensunterhalt so schnell wie möglich aus eigener Kraft bestreiten zu können.
Was stand in der Rechtsfolgenbelehrung?
Dieser Bescheid enthielt eine Rechtsfolgenbelehrung: „Wenn Sie an diesem Tag nicht zum Termin erscheinen und dafür keinen wichtigen Grund nachweisen, kürze ich Ihr Arbeitslosengeld II (§ 32 SGB II).“
Jobcenter verlangt Bettlägerigkeit
Das Jobcenter führte weiterhin aus: „Einen wichtigen Grund kann unter anderem eine Erkrankung darstellen. Zum Nachweis einer Erkrankung ist grundsätzlich eine von ihrem Arzt ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geeignet.
Da jedoch nicht jede Erkrankung dazu führt, dass ein Meldetermin nicht wahrgenommen werden kann, ist von Ihnen statt der allgemeinen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine Bettlägerigkeitsbescheinigung als Nachweis dafür vorzulegen, mit der Ihr Arzt bestätigt, dass Sie aufgrund Ihrer Erkrankung nicht in der Lage waren, zum angegebenen Termin beim Leistungsträger zu erscheinen.“
Absage per E-Mail
Die Leistungsberechtigte sagte dem Termin per E-Mail ab und begründete dies damit, dass sie ihrer Pflicht zur Beendigung der Arbeitslosigkeit mit regelmäßigen Bewerbungen nachkomme. Nachweise bei ihren Fallmanagern würden diese Aktualität gewährleisten. Es gebe also für sie keine Pflicht zur Teilnahme.
Keine Notwendigkeit für die Teilnahme
Das Jobcenter hörte die Betroffene wegen des unentschuldigten Fernbleibens zu einer Sanktion in Höhe von zehn Prozent der für sie maßgeblichen Regelleistung an.
Die Leistungsberechtigte teilte hieraufhin mit Schreiben vom 16. Juni 2017 mit, dass sie bereits per E-Mail informiert habe, dass sie keine Notwendigkeit für die Teilnahme an der Maßnahme sehe. Sie habe ein Bewerbungstraining absolviert und es habe bislang keine Beanstandungen in Bezug auf ihre Bewerbungen gegeben.
Die Leistung wird gekürzt
Mit Bescheid vom 19. Juli 2017 kürzte das Jobcenter die Leistungen um zehn Prozent für den Zeitraum von August bis Oktober 2017 und begründete dies damit, dass die Betroffene unentschuldigt nicht erschienen sei.
Einen Widerspruch der Sanktionierten wies das Jobcenter zurück. Dieser war allerdings ausführlich begründet. So könne eine Sanktion für einen nicht wahrgenommenen Termin einer Maßnahme nur nach Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung (EGV) verhängt werden. Eine Meldepflicht bestünde zudem nur gegenüber dem Fallmanager. Außerdem sei eine Sanktion verfassungswidrig, da sie gegen Artikel (Art.) 1, 2,11,12 und 20 des Grundgesetzes (GG) verstoße.
Jobcenter handelt rechtswidrig
Die Angelegenheit ging jetzt vor das Sozialgericht Hildesheim. Dieses erklärte: „Der Bescheid des Beklagten (Jobcenter) vom 19. Juli 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Oktober 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Voraussetzungen für die Leistungskürzung gem. § 32 SGB II liegen zur Überzeugung der erkennenden Kammer nicht vor.“
Was sind die Voraussetzungen für eine Sanktion
Voraussetzung für eine Sanktion sei es, so das Gericht, „dass Betroffene trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen, nicht nachkommen.“
Rechtsfolgenbelehrung darf nicht verwirren oder abschrecken
Diese Rechtsfolgenbelehrung müsste konkret, richtig, vollständig und zeitnah im Zusammenhang mit dem jeweils geforderten Verhalten erfolgen. Außerdem müsste sie für Leistungsberechtigte verständlich sein und zeigen, welche unmittelbaren und konkreten Auswirkungen sich aus der Weigerung des geforderten Verhaltens rgeben, wenn für diese kein wichtiger Grund vorliegt.
Außerdem dürfte eine Rechtsfolgenbelehrung keine überflüssigen oder falschen Informationen enthalten, die den Leistungsberechtigten verwirren oder abschrecken könnten. Das sei hier jedoch gerade der Fall.
Falsche Information des Jobcenters
Die Forderung einer Bettlägerigkeitsbescheinigung als einzige Möglichkeit, eine krankheitsbedingten Verhinderung bei einem Meldetermin nachzuweisen, sei falsch. Es müsste nicht einmal eine „normale“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Leistungsberechtigten vorliegen.
Zwar müsse der wichtige Grund objektiv vorliegen, dies könnte allerdings auch durch Beweismittel wie zum Beispiel Zeugen ohne Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen werden.
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Bescheid prüfenDas Gericht schloss: „Somit ist die Rechtsfolgenbelehrung falsch —die überflüssige bzw. falsche Information ist dazu geeignet einen Leistungsempfänger davon abzuhalten, eine Erkrankung als wichtigen Grund geltend zu machen.“
Zweifel an Leistungsminderung
Das war aber nicht die einzige Falschinformation, die die Richter beim Jobcenter erkannten. So sei der Termin -entgegen der Behauptung des Jobcenters- nicht nur eine Beratung gewesen.
Hingegen verweise die Wortwahl „Eingangsgespräch“ darauf, dass es sich bereits um das Erstgespräch einer Maßnahme zu deren weiteren Durchführung handelt. Das gelte auch für den übrigen Wortlaut der Einladung.
Dort sei nämlich wörtlich ausgeführt, dass an der Jobakademie grundsätzlich jeder teilnimmt. Die Teilnahme würde also bereits feststehen und das Eingangsgespräch nur der erste Termin der Maßnahme.
Warum ist dieser Punkt wichtig?
Auch in diesem Punkt handelte das Jobcenter laut den Richtern eindeutig rechtswidrig. Denn eine verweigerte Maßnahme könne nur nach dem Paragrafen 31 des Sozialgesetzbuches II sanktioniert werden, jedoch nicht nach dem Paragrafen 32 des Sozialgesetzbuches II, wie es das Jobcenter getan hatte.
Und noch eine Rechtswidrigkeit
Damit nicht genug. Außerdem sei auch dann die Voraussetzung zur Sanktionierung einer verweigerten Teilnehme an einer Maßnahme, dass der Leistungsberechtigte dieser Maßnahme zugeteilt worden sei. Als der Bescheid erging, hatte das Jobcenter dies jedoch nicht getan.
Vermutlich kein Einzelfall
Zuerst einmal erschreckt es, wie selbstverständlich ein Jobcenter hier gleich mehrfach das Recht bricht. Die Rechtsfolgenbelehrung war erstens ebenso falsch wie abschreckend, die Sanktion war zweitens nach einem falschen Paragrafen erteilt worden, und sie wäre drittens selbst nach dem richtigen Paragrafen rechtswidrig gewesen.
Rechtswidrigkeiten wie Briefmarken sammeln
Eine Behörde, die über die Mittel zum Lebensunterhalt von Menschen entscheidet, die darauf existentiell angewiesen sind, handelte also gleich dreifach gegen klar formulierte Gesetze, die diese Behörde anzuwenden hat – und jeweils dreifach gegen eine Leistungsberechtigte.
Bei einem Jobcenter, das so stark die eigenen gesetzlichen Vorgaben missachtet, muss man davon ausgehen, dass dies nicht das erste und auch nicht das einzige Mal so war.
Nicht die Butter vom Brot nehmen lassen
Viel zu viele Leistungsberechtigte geben bei solchen Rechtsbrüchen des Jobcenters klein bei. Wer Bürgergeld bezieht, kennt selten die juristischen Feinheiten des Sozialgesetzbuches II. Es ist auch nicht die Aufgabe von Empfängern von Sozialleistungen, ihre Zeit des Leistungsbezugs damit zu verbringen, zu autodidaktischen „Privatjuristen“ zu werden.
Jobcenter haben die Pflicht, ihre Vorgaben einzuhalten
Es ist vielmehr Pflicht der Mitarbeiter der Jobcenter, ihre gesetzlichen Vorgaben anzuwenden. Immer wieder verstoßen bestimmte Angestellte jedoch gegen diese Pflicht, verbreiten falsche Informationen, sanktionieren rechtswidrig Leistungsbezieher oder schrecken diese durch verwirrende Behauptungen ab.
Statt also Leistungsberechtigte bei der Arbeitssuche zu unterstützen, verunsichern sie die Betroffenen, und die Leistungsbezieher leiden, weil sie nicht wissen, ob und wie sie sich zur Wehr setzen können.
Absage überflüssiger Maßnahme
In diesem Fall hatte die Leistungsberechtigte jedoch glücklicherweise Kenntnis von der Rechtslage und das nötige Selbstbewusstsein, um gegen die Rechtsbrüche des Jobcenter Widerstand zu leisten. Alles begann damit, dass sie ihre Teilnahme an einer überflüssigen Maßnahme verweigerte.
Leistungsberechtigte kennt die Rechtslage
In der Begründung ihres Widerspruches gegen die Sanktion lag sie richtig. Sanktionen nach Paragraf 32 sind möglich. Wörtlich heißt es: „(1) Kommen Leistungsberechtigte trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen, nicht nach, mindert sich das Bürgergeld jeweils um 10 Prozent des für sie nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Dies gilt nicht, wenn Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen.“
Die Leistungsberechtigte wies zu Recht darauf hin, dass sich diese Meldepflicht auf Ihren Fallmanager beziehe. Diesem gegenüber hatte sie ihre Mitwirkungspflicht jedoch voll erfüllt.
Sanktion ohne Eingliederungsvereinbarung
Die Betroffene erkannte auch, genau wie später die Richter in ihrer Entscheidung, dass es sich um eine Sanktion wegen eines Termins bei einer Maßnahme handelte. Dabei verwies sie darauf, dass eine solche Sanktion nur nach Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung (EGV) verhängt werden kann.
Auf diesen Punkt gingen die Richter im Urteil nicht ein, was auch nicht nötig war, da das Jobcenter ja bereits bei der Zuordnung der Sanktion falsch gelegen hatte. Die Leistungsberechtigte fügte also der Sammlung an Rechtswidrigkeiten dieser Behörde noch eine hinzu.