Jobcenter kann Bürgergeld zu 100% versagen – muss aber nicht – Urteil mit Signalwirkung

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Bei einem vollständigen Entzug des Regelbedarfs ist der Grundsatz der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu berücksichtigen.

Heißt für das Jobcenter, eine Versagungsentscheidung ist nur rechtmäßig, wenn der Leistungsträger sein Entscheidungs- und Auswahlermessen betätigt, dabei die Grenzen des Ermessensspielraums eingehalten und seine Entscheidung hinreichend begründet hat.

Versagung wegen fehlender Mitwirkung findet ihre Rechtsgrundlage in § 66 SGB I

Im Falle mangelnder Mitwirkung können die Leistungen versagt (oder entzogen) werden. Nun gibt es aber Mitwirkungshandlungen, die dringend notwendig sind, um einen Anspruch zu berechnen (Einkommen , Vermögen etc.) und es gibt Mitwirkungshandlungen, bei denen es dies nicht unbedingt notwendig ist, die Leistungen aber dennoch versagt oder entzogen werden.

Im vorliegenden Fall hatte das Jobcenter den Verdacht, dass eine (psychische)Krankheit vorliegt, die zu fehlender Erwerbsfähigkeit führen würde und versagte das Bürgergeld.

Schon dies ist sehr fragwürdig, kranken Menschen keine Leistungen zu geben und diese sozusagen im Regen stehen zu lassen, ohne beispielsweise das Sozialamt einzuschalten (denn im Falle fehlender Erwerbsfähigkeit besteht ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII- § 44a SGB 2 ).

Das Sozialgericht hob aber den Versagungsbescheid auf, denn dieser erforderte im konkreten Fall die Ausübung von Ermessen, denn die Versagung kann erfolgen, muss aber nicht, so die 128.Kammer des Sozialgerichts Berlin.

Begründung der Kammer

1. Der von der Klägerin angefochtene Versagungsbescheid ist allein schon deshalb rechtswidrig, weil er entgegen der gesetzlichen Grundlage keinerlei zeitliche Begrenzung aufweist.

2. Bei der Klärung der Erwerbsfähigkeit nach § 44a SGB II geht es nicht darum, die Vergabe öffentlicher Mittel aus Steuergeldern zu – verhindern, sondern allein um die Klärung der behördlichen Zuständigkeit, da die Klägerin im Falle der Erwerbsunfähigkeit Leistungen der Sozialhilfe in vergleichbarer Höhe erhalten würde.

3. Dann verpasst die 128. Kammer des Sozialgerichts Berlin dem Jobcenter eine richtige Ohrfeige, denn es klärt die Behördenmitarbeiter auf, warum sie Leistungen versagen dürfen – es aber nicht müssen

Zitat

“Nach dem Wortlaut der Rechtsgrundlage (§ 66 Abs. 1 Satz 1 SGB /) muss sich die Ermessensausübung insbesondere darauf beziehen, ob die Leistung insgesamt oder nur teilweise versagt wird („…kann der Leistungsträger …ganz oder teilweise versagen…“).

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Ein Versagungsbescheid muss daher Ausführungen hierzu enthalten (LSG Berlin-Brandenburg 10.2.2021 – L 5 AS 1582/20 B PKH).

Bei einem vollständigen Entzug des Regelbedarfs ist der Grundsatz der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu berücksichtigen

Dabei ist im Rahmen der Ermessensentscheidung die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur teilweisen Verfassungswidrigkeitvon Sanktionen nach§§ 31ft SGB II (BVerfG 5.11.2019- 1 BvL 7/16- BVerfGE152,68) zu berücksichtigen(vgl.Bayerisches LSG6.5.2021- L16AS652120-).

Ferner ist auch zu berücksichtigen, dass Kosten der Unterkunft (§ 22 SGB 2 ) über längere Zeit vorenthalten werden und damit das Risiko der Obdachlosigkeit droht.

Fazit

Eine Ermessensentscheidung über die vollständige Entziehung der Regelleistung nach dem SGB II zur Klärung der Erwerbsfähigkeit, bei unstrittiger Hilfebedürftigkeit, bedarf – immer – einer besonderen Begründung seitens des Jobcenters.

Anmerkung vom Experten für Sozialrecht Detlef Brock

1. Kein Bürgergeld-Entzug wegen verweigertem Arzt-Termin,wenn das Jobcenter – nicht konkret und verständlich – auf die Folgen hingewiesen hat und einfach das Bürgergeld- ohne besondere Begründung ganz gestrichen hat.

Denn eine Versagungsentscheidung ist nur rechtmäßig, wenn der Leistungsträger sein Entscheidungs- und Auswahlermessen betätigt, dabei die Grenzen des Ermessensspielraums eingehalten und seine Entscheidung hinreichend begründet hat.

Kein Bürgergeld-Entzug wegen verweigertem Arzt-Termin