Bei Kostenanträgen für Hörgeräte über dem Festpreis müssen die Krankenkassen Vorteile bei sämtlichen Aspekten des Hörens berücksichtigen. Daher dürfen sie sich nicht auf die Ergebnisse des sogenannten Freiburger Einsilbertests beschränken, wie das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg in Potsdam in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 30. Januar 2025 entschied (Az.: L 4 KR 4/22).
Danach ist zudem nicht automatisch von einer Vorfestlegung des Versicherten auszugehen, wenn sie die Testung verschiedener Geräte mit einem zuzahlungspflichtigen Hörgerät beginnen. Hörgeräteakustiker müssen dann allerdings mit Regressforderungen der Krankenkasse rechnen.
Der konkrete Fall
Die Klägerin im Streitfall leidet unter anderem an einer beidseitigen Schallempfindungsschwerhörigkeit vor allem bei hohen Tönen, sowie einem beidseitigen chronischen Tinnitus, was ohne Hörgeräte zu einem Erschöpfungssyndrom führt.
Weil sie zuvor mit Hörgeräten einer bestimmten Marke gute Erfahrungen gemacht hatte, bat sie ihren Hörgeräteakustiker, beim Ausprobieren mit Geräten einer bestimmten Marke zu beginnen. Danach testete sie noch verschiedene weitere Geräte, darunter auch zwei zuzahlungsfreie. Doch die ersten zuzahlungspflichtigen Geräte blieben ihre Favoriten.
Der „Freiburger Einsilbertest“ war allerdings bei allen Geräten gleich ausgefallen. Mit diesem in Deutschland üblichen Verfahren wird getestet, wie viele einsilbige Wörter die Patienten in welscher Lautstärke verstehen. Seit Ende 2016 erfolgt dies auch mit „Störschall“.
LSG Potsdam: Kassen müssen alle Aspekte des Hörens berücksichtigen
Mit Verweis auf die Ergebnisse dieser Tests hatte hier die Krankenkasse eine Übernahme der den Festbetrag übersteigenden Kosten abgelehnt. Das Sozialgericht Berlin war dem noch gefolgt. Das LSG Potsdam gab der Klage der Frau nun jedoch statt und sprach ihr weitere 2.630 Euro zu.
Zur Begründung betonte das LSG, dass eine deutliche Hörminderung eine Behinderung ist. Den sich daraus ergebenden Versorgungsanspruch könnten die Krankenkassen zwar grundsätzlich mit der Zahlung des Festbetrags erfüllen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) begrenze dieser „die Leistungspflicht der Krankenkasse aber dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht“.
Um dies zu überprüfen, dürften sich die Krankenkassen nicht allein auf den Freiburger Einsilbertest stützen. Denn zu verschiedenen Aspekten des Hörens erlaube dieser keine Aussagen, etwa zum Richtungshören oder zum Hören und Verstehen in großen Räumen oder in Gruppen. Wenn sich in diesen Bereichen Gebrauchsvorteilen „im Einzelfall objektivieren lassen“, könne daher ein Anspruch auf Hörgeräte über dem Festbetrag bestehen.
Im Streitfall habe die Klägerin glaubhaft beschrieben, dass sie mit zuzahlungsfreien Geräten stärkeren Tinnitus und stärkere Kopfschmerzen gehabt habe und auch erschöpfter gewesen sei. Zudem sei es häufiger zu Rückkopplungsproblemen gekommen. Dies alles habe „erheblichen Einfluss auf das Alltagsleben“. Daher könne die Krankenkasse dies nicht als reine Komfortfragen abtun.
Dass die Frau ihre Testungen mit zuzahlungspflichtigen Geräten begonnen habe, stehe ihrem Anspruch ebenfalls nicht entgegen. Das sei zwar ungewöhnlich, und Hörgeräteakustiker müssten gegebenenfalls mit Regressforderungen rechnen. Aus der hier maßgeblichen Perspektive der Versicherten bestehe eine Vorfestlegung aber nur dann, wenn sie die Testung eines zuzahlungsfreien Geräts ablehnen. Das sei hier nicht der Fall gewesen. mwo