Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat am 11. April 2025 (Az. L 3 SB 2/25 B) bestätigt: Gerichte dürfen die Einholung eines § 109-Gutachtens ablehnen, wenn es keine neuen, entscheidungserheblichen Erkenntnisse erwarten lässt oder das Verfahren spürbar verzögert.
Für Betroffene in GdB- und Merkzeichenverfahren ist das zentral. Wer ein zusätzliches Gutachten durchsetzen will, muss Erheblichkeit, Neuerungswert und Verfahrensförderung präzise darlegen.
Inhaltsverzeichnis
Worum es rechtlich geht: § 109 SGG kurz erklärt
§ 109 SGG gibt Klägerinnen und Klägern das Recht, ein Gutachten eines bestimmten Arztes zu verlangen. Dieses „Wunsch-Gutachten“ ist kein Automatismus: Das Gericht kann den Antrag ablehnen, wenn er das Verfahren verzögern würde oder keine relevanten neuen Erkenntnisse zu erwarten sind.
Damit schützt die Norm sowohl den Anspruch auf Sachaufklärung als auch die Verfahrensökonomie.
Was der Beschluss praktisch klarmacht
Das LSG Hamburg stellt die Abwägung in den Mittelpunkt: Kommt durch das zusätzliche Gutachten wirklich etwas Neues hinzu? Fehlt dieser Mehrwert, darf die Kammer den Antrag ermessensgerecht zurückweisen. Ein bloßes Wiederholen vorhandener Befunde reicht nicht.
Zugleich bleibt die Tür offen, wenn konkrete Widersprüche oder methodische Lücken der bisherigen Befundlage belegt werden.
Konsequenzen für GdB- und Merkzeichenverfahren
Gerade in Verfahren zur Erhöhung des GdB oder zur Zuerkennung von Merkzeichen (G, aG, B, H) wird § 109 SGG häufig genutzt. Der Beschluss verdeutlicht: Entscheidend ist eine präzise Beweisfrage zum Streitzeitpunkt.
Wer die Erheblichkeit sauber begründet, kann die Einholung trotz enger Maßstäbe erreichen. Wer den Antrag spät und unspezifisch stellt, riskiert die Ablehnung.
So erhöhen Betroffene die Erfolgschancen
Formulieren Sie den Antrag eng am Kernproblem. Benennen Sie konkrete Defizite der vorhandenen Gutachten: fehlende Funktionstests, überholte Befundzeiträume, unklare Zuordnung zur VersMedV. Begründen Sie, warum genau der gewünschte Facharzt diese Lücken schließen kann.
Verweisen Sie auf die Entscheidungserheblichkeit: etwa den möglichen Sprung GdB 40 → 50 oder die Voraussetzungen für Merkzeichen G im relevanten Zeitraum. Das zeigt Neuerungswert und Verfahrensförderung.
Timing, Verzögerung und Ermessensspielraum
Ein verspäteter § 109-Antrag kann allein wegen Verzögerung scheitern. Wer erst in der mündlichen Verhandlung auf § 109 verweist, muss mit einer Ablehnung rechnen. Stellen Sie den Antrag frühzeitig und bieten Sie zeitnahe Termine für Untersuchung und Befundübermittlung an. So reduzieren Sie das Argument der Verfahrensverschleppung.
Kosten: Wer zahlt das Wunsch-Gutachten?
Die endgültige Kostentragung liegt im Ermessen des Gerichts. Maßgeblich ist, ob das Gutachten die Aufklärung wesentlich gefördert hat. Bringt es keine entscheidungsrelevanten neuen Erkenntnisse, bleiben Betroffene oft auf den Kosten sitzen.
Umgekehrt kann eine Kostentragung zulasten der Staatskasse in Betracht kommen, wenn das Gutachten den Prozess sichtbar vorangebracht hat – oder wenn das Gericht im Umgang mit § 109 fehlerhaft verfahren ist.
Praxisbeispiel: Wann ein § 109-Gutachten Sinn ergibt
Sinnvoll ist ein Antrag, wenn das vorhandene Gutachten methodische Lücken aufweist, etwa fehlende Belastungstests der Wirbelsäule, unklare Leistungsbild-Abstufung oder veraltete Befunde außerhalb des Streitzeitraums.
Ein spezialisierter Facharzt kann hier eine präzisere Einordnung nach den VersMedV-Anhaltspunkten liefern. Entscheidend bleibt: Welche Antwort soll das neue Gutachten liefern und wie ändert diese Antwort die Entscheidung?
Warnhinweise: Wann Sie sich den Antrag sparen sollten
Kein Antrag „auf Verdacht“. Wer keine konkrete Beweisfrage formuliert, keinen Streitzeitraum trifft oder nur eine Wiederholung der bisherigen Diagnostik erwartet, riskiert Ablehnung und Kostenfolgen. Gleiches gilt bei offenkundiger Verzögerung ohne triftigen Grund. Planen Sie früh, präzisieren Sie streng und belegen Sie die Erheblichkeit.
Einordnung für die Redaktion und Beratungsstellen
Der Beschluss stärkt klare Begründungsstandards im Schwerbehindertenrecht. Für Beratungsstellen ist er ein Hebel, unspezifische § 109-Anträge zu vermeiden und zielgenaue Anträge zu entwickeln:
Konkrete Befundlücke, präzise Beweisfrage, Streitzeitraum, sachgerechte Facharztwahl und frühes Timing. So lassen sich Ressourcen schonen und erfolgreiche Verfahren wahrscheinlicher machen.