Die 25. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart hat mit einer bedeutsamen Entscheidung (Gerichtsbescheid vom 22.01.2024 – S 25 AS 413/21 – rechtskräftig, nicht veröffentlicht) klargestellt: Bloße Zahlungsunfähigkeit eines Schuldners oder ungünstige wirtschaftliche Verhältnisse begründen keine sachliche Unbilligkeit der Beitreibung einer Forderung im Sinne des § 44 SGB II.
Inhaltsverzeichnis
COVID-19-Pandemie: massive Umsatzausfälle
Die Kammer führte weiter aus, dass der Hinweis des Klägers auf massive Umsatzausfälle infolge der COVID-19-Pandemie im Regelfall nicht geeignet ist, eine persönliche Härte zu begründen.
Forderungserlass aus Billigkeitsgründen
Ein Erlass setzt voraus, dass er sich konkret positiv auf die wirtschaftliche Situation des Schuldners auswirkt. Leben Betroffene in Verhältnissen, die eine Durchsetzung der Ansprüche ohnehin ausschließen, ändert ein Erlass daran nichts und verschafft keinen wirtschaftlichen Vorteil.
Stundung ist im Einzelfall zu prüfen
Zu prüfen ist jeweils, ob eine Stundung in Betracht kommt, wenn ein vorübergehender Zahlungsaufschub ausreicht, um den Interessen des Leistungsempfängers Rechnung zu tragen.
Sachverhalt
Der Kläger und das Jobcenter stritten über den Erlass einer Darlehensrückforderung. Nach dem Ausscheiden des Klägers aus dem Leistungsbezug nach dem SGB II forderte das Jobcenter die Rückzahlung zuvor bestandskräftig darlehensweise gewährter Leistungen.
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Bescheid prüfenDen Antrag auf Erlass lehnte das Jobcenter ab: Ein Erlass komme nur bei Unbilligkeit in Betracht; ein sachlicher Grund hierfür sei nicht erkennbar.
Der Kläger hielt die Beitreibung wegen massiver Umsatzausfälle während der Pandemie für unbillig.
Er wandte sich an das Sozialgericht und machte geltend, die Einziehung bedeute für ihn eine unzumutbare Härte. Er sei Inhaber einer Café-Bar und habe seit Beginn der Corona-Krise erhebliche Umsatzeinbußen erlitten.
Entscheidung des Gerichts
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Die Kammer stellte weder eine Unbilligkeit der Forderungseinziehung noch das Vorliegen einer unzumutbaren Härte fest.
Anmerkung von Sozialrechtsexperte Detlef Brock
- Unbilligkeit prüfen: Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls, insbesondere persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse des Schuldners sowie Art und Höhe des Anspruchs. Diese Belange sind gegen das öffentliche Interesse an der Einziehung von Forderungen abzuwägen.
- Haushaltsrechtliche Vorgaben: Zu Lasten eines Erlasses ist stets zu berücksichtigen, dass Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben sind. Eine zu großzügige Erlasspraxis würde die Finanzierbarkeit berechtigter Ansprüche anderer Leistungsempfänger erschweren.
- Ausnahmecharakter des Erlasses: Der Erlass ist der endgültige Verzicht auf die Geltendmachung der Forderung und stellt nach § 44 SGB II einen Ausnahmefall dar. Es ist stets auf die Lage des einzelnen Falles abzustellen; allgemeine Unbilligkeiten, die Leistungsberechtigte insgesamt treffen, bleiben unberücksichtigt.
- Sachliche Unbilligkeit: Eine Billigkeitsmaßnahme kann angezeigt sein, wenn der Sachverhalt zwar den Tatbestand der Anspruchsnorm erfüllt, die Einziehung aber den Wertungen des Gesetzes zuwiderliefe, ohne die Geltung des Gesetzes zu unterlaufen (Erlass wegen sachlicher Unbilligkeit; vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2023 – L 3 AS 2551/22).
- Persönliche Unbilligkeit: Diese liegt vor, wenn sich der Schuldner in einer Notlage befindet und zu befürchten ist, dass die Weiterverfolgung des Anspruchs existenzgefährdend wirkt. Das kann z. B. der Fall sein, wenn ohne Erlass der notwendige Lebensunterhalt (Ernährung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung, Ausbildung, sonstige Gegenstände des täglichen Lebens) vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr gedeckt wäre.
Auch ohne akute Existenzgefährdung kann bei nicht nur kurzfristiger Notlage eine unbillige Härte vorliegen. Erforderlich sind Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit im Einzelfall.Rechtstipp zum Bürgergeld
Grobe Fahrlässigkeit schließt Erlass nicht aus (LSG Sachsen, Urteil vom 04.11.2024 – L 7 AS 942/19).
Auch bei grob fahrlässig herbeigeführter Rückforderung des ALG II wegen freibetragsüberschreitenden Vermögens kann ein Erlass nach § 44 SGB II bei atypischen Härtefällen in Betracht kommen (BSG, Urteil vom 25.04.2018 – B 14 AS 15/17 R).