EU-Rente: Jobcenter stellte rechtswidrig Bürgergeld nach Ablehnung des Rentenantrags ein

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Im vorliegenden Fall berichtete Rechtsanwalt Kay Füßlein von einem schwerwiegenden Fehler seitens des Jobcenters.

Die Mandantin des Anwalts stellte bei der Rentenversicherung einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente).

Dieser Antrag wurde jedoch aufgrund fehlender Mitwirkung abgelehnt. Diese Information gelangte jedoch nur an das Jobcenter, das daraufhin die Leistungen nach § 5 SGB II (Bürgergeld) entzog.

Ist die Entziehung der Leistungen nach § 5 SGB II rechtens?

Nein, die Entziehung der Leistungen nach § 5 SGB II war in diesem Fall rechtswidrig.

Der Wortlaut des § 5 SGB II sieht eine Entziehung oder Versagung der Leistungen nur dann vor, wenn ein Antrag des JobCenters vorliegt. Dies setzt voraus, dass das JobCenter zur Antragstellung auffordert und dieser Aufforderung nicht nachgekommen wird.

Im vorliegenden Fall hat die Mandantin jedoch den Antrag selbst bei der Rentenversicherung gestellt. Eine Ablehnung dieses selbst gestellten Antrags führt nicht zur Eröffnung des Anwendungsbereichs für eine Versagung oder Entziehung der Leistungen nach § 5 SGB II.

Was besagt das Sozialgericht Berlin dazu?

Das Sozialgericht Berlin hat in seinem Beschluss klar festgehalten, dass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II nicht erfüllt sind, wenn der Antrag von der betroffenen Person selbst gestellt wurde. Das Gericht führte dazu aus:

„Nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ganz oder teilweise so lange zu entziehen oder zu versagen, bis die leistungsberechtigte Person ihren Mitwirkungsverpflichtungen gegenüber dem anderen Träger nachgekommen ist, wenn Leistungen aufgrund eines Antrages nach S. 1 von einem anderen Träger nach § 66 SGB I bestandskräftig entzogen oder versagt worden sind. Nach S. 1 der Vorschrift können Leistungsträger nach diesem Buch den Antrag stellen, wenn Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen.“

Das Sozialgericht betonte, dass im vorliegenden Fall nicht der Antragsgegner, sondern die Antragstellerin selbst den Antrag bei der Rentenversicherung gestellt hatte. Somit finden die Regelungen des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II keine Anwendung.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Aufgrund der Entscheidung des Sozialgerichts Berlin sind die Leistungen nach § 5 SGB II weiterhin zu zahlen.

Das Jobcenter darf in solchen Fällen nicht eigenmächtig die Leistungen entziehen, wenn der Antrag auf eine andere Sozialleistung (wie die Erwerbsunfähigkeitsrente) von der betroffenen Person selbst gestellt und abgelehnt wurde.

Dies schützt die Rechte der Leistungsempfänger und stellt sicher, dass ihnen die notwendigen Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht ohne rechtliche Grundlage entzogen werden.

Fazit: Was bedeutet dies für Betroffene?

Für Betroffene bedeutet dies, dass sie ihre Anträge auf Sozialleistungen selbst stellen können, ohne befürchten zu müssen, dass ihnen bei einer Ablehnung dieser Anträge automatisch die Leistungen nach § 5 SGB II entzogen werden. Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin stellt klar, dass eine solche Entziehung nur unter spezifischen Voraussetzungen erfolgen kann, die in diesem Fall nicht gegeben waren.

Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock

Die Entscheidung des SG Berlin, welche ich ausführlich mit RA K. Füßlein besprochen hatte, weil das LSG Sachsen kurzfristig vorher 2 Urteile erlassen hatten, die den gleichen Inhalt hatten, lässt dich wunderbar auf folgende Antragstellungen übertragen.

Das Gesagte im SG Berlin und das was gleich noch vor mir kommt, gilt grundsätzlich bei der Beantragung von

Kinderzuschlag, Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Bafög oder Rentenantrag

1. Der Regelungsbereich des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II ist nur dann eröffnet, wenn der Leistungsempfänger trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellt und stattdessen das Jobcenter einen solchen Antrag stellt.

2. Stellt der Leistungsempfänger den Antrag hingegen selbst, ist die Regelung nicht anwendbar.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Antragstellung aus freien Stücken oder nach Aufforderung des Jobcenters erfolgt war ( so ausdrücklich LSG NSB, mit Urteil vom 20.12.2019 – L 9 AS 538/19 -; ganz aktuell LSG Sachsen, Beschluss v. 03.01.2024 – L 4 AS 567/23 B ER – ).

3. Auch wenn § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II dem Jobcenter nach seinem Wortlaut kein Ermessen im Hinblick auf das Ob einer Entziehung oder Versagung einräumt, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

Dennoch bleiben dem Jobcenter auch dann noch Handlungsalternativen, die eine behördliche Entscheidung erfordern, nämlich ob Leistungen versagt oder entzogen werden und in welchem Umfang dies erfolgt. Gerade im Hinblick auf die Höhe der Versagung oder Entziehung müssen die SGB II-Leistungsträger alle Umstände des konkreten Einzelfalls berücksichtigen.

So hat das BSG bereits für die Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Leistungen gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 1. Halbsatz SGB II auf die Befugnis und Verpflichtung der Jobcenter hingewiesen, die Interessen des Leistungsberechtigten mit den Interessen der Allgemeinheit abzuwägen und auf dieser Grundlage ihr Entschließungsermessen auszuüben (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.2022 – B 4 AS 60/21 R -).

Darum bedarf es jedenfalls über den Umfang der Versagung oder Entziehung nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II einer Ermessensentscheidung des Jobcenters (vgl. auch Sächsisches LSG, Beschluss vom 06.01.2023 – L 7 AS 591/22 B ER – ).

4. Die Entziehung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Versagen von Leistungen eines anderen Trägers bedarf einer Ermessensentscheidung, bei der das Recht über Leistungsminderungen zu berücksichtigen ist, vorliegend ist das zu berücksichtigen z. Bsp.
bei Beantragung von Kinderzuschlag, Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Bafögantrag oder Beantragung von Renten.

5. Bei einer solchen Ermessensentscheidung ist die (sog. Sanktions-) Entscheidung des BVerfG vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 zu berücksichtigen, zumal anders als bei sog. Sanktionsentscheidungen (§ 31a Abs. 3 SGB II in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung) bei einer vollständigen Entziehung von existenzsichernden Leistungen keine Erbringung von Sachleistungen oder geldwerter Leistungen gesetzlich vorgesehen ist.

Und auch nach dem Inkrafttreten des sog. Bürgergeld-Gesetzes vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) „Leistungsminderungen“ (Kapitel 3 Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 SGB II) ab Januar 2023 weiterhin auf insgesamt 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs begrenzt sind (vgl. z.B. § 31a Abs. 1 Satz 3, Abs. 4 SGB II).