Um eine Erwerbsminderungsrente zu erhalten, müssen Betroffene zwei Hürden meistern: eine medizinische und eine versicherungsrechtliche. Genau an diesem Zusammenspiel ist ein Mann aus Mecklenburg-Vorpommern nach jahrelangem Kampf gescheitert. Sein Fall zeigt eindrücklich, wie eng die Zeitfenster gesetzt sind – und wie schnell ein Anspruch trotz schwerer Erkrankungen verloren gehen kann.
Inhaltsverzeichnis
Ein Leben zwischen Schmerzen, Depressionen und Ablehnungen
Der Mann, Jahrgang 1965, begann sein Berufsleben als Polsterer und arbeitete später als technischer Produktdesigner. Anfang 2013 verlor er seinen Arbeitsplatz und geriet gesundheitlich immer weiter in die Defensive. Er kämpfte mit Depressionen, einer Schmerzstörung, den Folgen einer Bandscheibenoperation und weiteren Beschwerden, die seinen Alltag mehr und mehr bestimmten.
Erster Antrag auf Erwerbsminderung scheitert
Bereits 2014 beantragte er zum ersten Mal eine Erwerbsminderungsrente. Die Rentenversicherung lehnte jedoch ab. Ihre Gutachter bescheinigten ihm eine Leistungsfähigkeit von mindestens sechs Stunden täglich. Auch das anschließende Gerichtsverfahren brachte keine Wende. Die dortigen Sachverständigen bestätigten das Urteil der Rentenversicherung.
Ein zweiter Anlauf – und ein Gutachten, das alles ins Wanken brachte
2017 startete der Mann einen neuen Versuch. Wieder stellte er einen Rentenantrag, und wieder erteilte die Rentenversicherung eine Absage. Der aktuelle Reha-Bericht erwähnte zwar seine Krankheiten, hob jedoch auch einen strukturierten Alltag und Freizeitaktivitäten wie Radfahren oder Spaziergänge hervor. Die Einschätzung blieb daher unverändert: Der Mann gelte als arbeitsfähig für mindestens sechs Stunden.
Neues Gutachten bringt die Wende
Er klagte erneut – und wählte diesmal einen neuen Weg. Nach § 109 SGG durfte er einen Sachverständigen seiner Wahl benennen. Ein Diplom-Psychologe untersuchte ihn 2019 intensiv und stellte erstmals Diagnosen, die alle bisherigen Gutachten infrage stellten.
Er erkannte eine schwere posttraumatische Verbitterungsstörung und eine mittelgradige depressive Episode. Seine Bewertung war eindeutig: Der Mann könne täglich weniger als drei Stunden arbeiten. Damit lag endlich der medizinische Schlüssel für eine Erwerbsminderungsrente vor.
Das Sozialgericht Schwerin folgte dem Gutachten und sprach dem Mann eine befristete Rente zu – jedoch erst ab Februar 2020.
Rentenversicherung kontert – und setzt auf den Zeitpunkt der Erwerbsminderung
Die Rentenversicherung akzeptierte dieses Urteil nicht und legte Berufung ein. Zum einen stellte sie die Diagnose der Verbitterungsstörung infrage, weil zuvor kein Gutachten darauf hingedeutet hatte. Zum anderen argumentierte sie mit zeitlichem Nachdruck: Entscheidend sei, wann der Versicherungsfall eingetreten sei.
Mindestens drei durchgehende Jahre Pflichtbeiträge entscheiden
Eine volle Erwerbsminderungsrente erhält nur, wer im Zeitpunkt der gesundheitlichen Verschlechterung ausreichend Pflichtbeiträge vorweisen kann. Das Gesetz verlangt, dass Antragsteller in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre Pflichtbeiträge entrichtet haben.
Nach Berechnung der Rentenversicherung erfüllte der Mann diese Voraussetzung nur bis Juni 2019. Der psychologische Gutachter stellte die volle Erwerbsminderung aber erst am 29. Juli 2019 fest. Für die Behörde war der Antrag damit zu spät.
Das Landessozialgericht urteilt – und der Fall kippt endgültig
Das Landessozialgericht bestätigte die Argumentation der Rentenversicherung und hob das Urteil der ersten Instanz auf. Die Richter betonten, dass beide Voraussetzungen – medizinisch und versicherungsrechtlich – wie zwei ineinandergreifende Zahnräder funktionieren müssen. Wenn eines zeitlich nicht passt, rutscht das ganze System ins Leere (Az.: L 7 R 88/20).
Keine Erwerbsminderung während der Versicherungszeit
Zwar akzeptierte das Gericht das psychologische Gutachten grundsätzlich, obwohl der Sachverständige kein Arzt war. Gerichte dürfen solche Gutachten verwerten. Doch die neue Diagnose passte nach Auffassung der Richter nicht zur bisherigen Krankengeschichte und verlor dadurch an Glaubwürdigkeit.
Ausschlaggebend war jedoch nicht der Inhalt des Gutachtens, sondern der Zeitpunkt des Nachweises. Der Mann konnte nicht belegen, dass seine Leistungsfähigkeit bereits vor Juni 2019 auf unter drei Stunden gesunken war. Alle früheren medizinischen Unterlagen sprachen eine andere Sprache.
Frühere Gutachten, Reha-Berichte und ärztliche Stellungnahmen bescheinigten ihm weiterhin eine Leistungsfähigkeit von mindestens sechs Stunden täglich. Auch dokumentierte Aktivitäten wie eine 52-Kilometer-Radtour im Jahr 2019 stützten die Annahme, dass eine schwere Leistungsminderung nicht schon länger vorlag.
Damit stand fest: Medizinisch war eine Erwerbsminderung vermutlich gegeben. Doch ließ sie sich für die versicherungsrechtlich wesentlichen Zeiten nicht nachweisen. Der Mann hatte keinen Anspruch auf Rente.
FAQ: Die fünf wichtigsten Fragen zum Urteil
Warum scheiterte der Mann trotz seines neuen Gutachtens?
Er konnte nicht nachweisen, dass die volle Erwerbsminderung bereits zu einem Zeitpunkt eingetreten war, in dem er noch genügend Pflichtbeiträge gezahlt hatte.
Reicht ein psychologisches Gutachten für eine Erwerbsminderungsrente aus?
Gerichte dürfen psychologische Gutachten verwerten. Entscheidend ist jedoch, dass die Diagnosen mit früheren medizinischen Befunden übereinstimmen und eine stimmige Entwicklung zeigen.
Was bedeutet der Begriff „Versicherungsfall“ genau?
Er beschreibt den Zeitpunkt, zu dem die Arbeitskraft dauerhaft unter die Grenze von drei Stunden täglich sinkt. Nur wenn dieser Moment innerhalb einer beitragsrechtlich abgesicherten Phase liegt, besteht Anspruch auf Rente.
Kann eine spätere Diagnose rückwirkend eine frühere Erwerbsminderung beweisen?
Ja, aber nur wenn zusätzliche stichhaltige Unterlagen zeigen, dass die Einschränkungen schon vorher bestanden. Fehlen diese Belege, bleibt der Nachweis schwierig.
Was bedeutet dieses Urteil für Erwerbsgeminderte?
Das Urteil zeigt klar, wie entscheidend der richtige Zeitpunkt für den Rentenanspruch ist. Betroffene müssen nicht nur ihre gesundheitliche Situation dokumentieren, sondern auch darauf achten, dass ihre Beitragszeiten lückenlos bleiben. Wer zu spät ein schlüssiges Gutachten erhält, riskiert seinen Anspruch – selbst wenn die Erkrankung schwer ist.
Für Erwerbsgeminderte bedeutet das: Je früher medizinische Befunde gesammelt und Anträge gestellt werden, desto besser. Dieses Urteil mahnt dazu, wachsam zu bleiben, Hilfe rechtzeitig einzuholen und den komplizierten Mechanismus aus medizinischer Feststellung und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen genau im Blick zu behalten.




