Eine Summierung von Leistungseinschränkungen kann eine volle Erwerbsminderungsrente bedeuten. Die Behauptung, dass bestimmte Beschäftigungen auch mit dem verbliebenen Leistungsvermögen sechs Stunden oder länger möglich seien, reicht dann nicht aus. Eine konkrete Verweisungstätigkeit muss hingegen genannt werden. So entschied das Sozialgericht Nordhausen (Urteil vom 18.01.2024, S 20 R 1735/20).
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Trotz zahlreicher Leiden sieht die Rentenkasse Erwerbsfähigkeit
Der Betroffene beantragte bei der Deutschen Rentenversicherung eine volle Erwerbsminderungsrente auf der Grundlage zahlreicher Erkrankungen und Beeinträchtigungen, ebenso körperlicher wie psychischer Natur.
Die Deutsche Rentenversicherung sah Befundberichte ein und beauftragte ein psychiatrisch-psychosomatisches ebenso wie ein internistisch-rheumatologisches Zusatzgutachten. Am Ende entschied sie, dass der Betroffene erwerbsfähig sei.
Arthrose, Immunerkrankung, chronischer Infekt und vieles mehr
Die Gutachten ergaben eine Arthrose des linken Handgelenks bei Linkshändigkeit, eine komplexe Variable Immunschwäche (CVID) mit Immunglobulinmangel und IgG-Substitution sowie Folgen gehäufter Infekte in Nasennebenhöhlen und Mittelohr (chronische Sinusitis und Otitis).
Weiterhin litt der Mann an einer alkoholtoxischen Fettleber aufgrund schädlichen Alkoholkonsums sowie an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Schwere Allergien gehörten zu den weiteren Beschwerden. Hinzu kam eine kontrolliert-zwanghafte Persönlichkeit, die allerdings ausreichend belastbar sein sollte.
Körperlich leichte Tätigkeit mehr als sechs Stunden möglich, aber …
Insgesamt kam einer der Gutachter zu dem Schluss, dass körperlich leichte Tätigkeiten mehr als sechs Stunden pro Tag möglich seien, allerdings weder Akkord- noch Nachtarbeit. Möglich sei etwa eine Tätigkeit als Telefonist bei adäquatem Arbeitsweg oder im Homeoffice.
Gleichzeitig stellte das immunologische Gutachten fest: Kontakte zu anderen Menschen sollten weitgehend gemieden, öffentliche Verkehrsmittel wegen des Infektionsrisikos vermieden und eine dauerhafte Maskenpflicht sei nicht zumutbar; zudem sei die Gebrauchsfähigkeit der Hände nicht voll gegeben.
Die Infektanfälligkeit führe zu gehäuften Fehlzeiten, sodass ein Einsatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kaum möglich erscheine.
Leistungseinschränkungen können in der Summe das Arbeitsfeld verringern
Der Betroffene klagte vor dem Sozialgericht Nordhausen, um seinen Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente durchzusetzen. Die dortigen Richter betonten, dass die Summe ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen das noch mögliche Arbeitsfeld erheblich einengen kann und dass bereits die Häufung von Kurzzeiterkrankungen für sich genommen den Einsatz zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts praktisch ausschließen kann.
Gibt es überhaupt mögliche Arbeitsplätze?
Wenn dies der Fall ist, kann nicht von ausreichenden Stellen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für eine mögliche sechsstündige Tätigkeit ausgegangen werden. Vielmehr bestehen ernste Zweifel, ob der Betroffene überhaupt in einem Betrieb einsetzbar ist. In solchen Konstellationen muss eine konkrete Verweisungstätigkeit genannt werden (u. a. L 10 KN 5/06).
Ein möglicher Arbeitsplatz muss konkret genannt werden
Der Hinweis, dass die Tätigkeit eines Telefonisten im Homeoffice grundsätzlich möglich sei, genügt den Anforderungen an eine Verweisungstätigkeit nicht. Erforderlich ist die Benennung eines typischen, hinreichend beschriebenen Berufs mit erkennbaren Anforderungen an Kenntnisse und Leistungsvermögen; einzelne Arbeitsvorgänge oder ein bloßes „Berufsfeld“ reichen nicht.
Im konkreten Fall schied zudem „Verpacker von Kleinteilen“ wegen der gestörten Feinmotorik aus. Das Gericht kritisierte darüber hinaus, dass in der Tätigkeitsbeschreibung auf veraltete berufskundliche Unterlagen zurückgegriffen wurde, die die heutigen Anforderungen nicht belastbar abbilden.
Ein diffuses Berufsfeld reicht nicht aus
Die Richter führten aus: Es reicht nicht, auf ein diffuses Berufsfeld zu verweisen, in dem möglicherweise einige Arbeitsplätze leidensgerecht sein könnten. Die Verweisung muss so konkret sein, dass sie dem Rentenantragsteller Orientierung für eine real anzustrebende Tätigkeit gibt und zugleich eine gerichtliche Überprüfung der Angemessenheit ermöglicht.
Die Rentenversicherung muss eine volle Erwerbsminderungsrente zahlen
Das Gericht entschied, dass dem Betroffenen eine volle Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren ist – beginnend ab dem 01.03.2020. Aufgrund des chronischen immunologischen Krankheitsbildes sah das Gericht keine Aussicht auf Besserung. (Hinweis: Über eine Befristung entscheidet die Rentenversicherung im Vollzug; der Tenor enthält keine ausdrückliche Befristung.)