EM-Rente: Urteil bestätigt bestätigt dauerhafte Erwerbsminderungsrente

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Mit seinem Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg ein Grundsatz gesetzt. Unter dem Aktenzeichen L 3 R 74/21 stellten die Richter fest, dass eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht nur zu gewähren, sondern im konkreten Fall auch unbefristet als Dauerrente auszuzahlen ist.

Damit bestätigt das Gericht, dass die gesetzliche Regelbefristung von Erwerbsminderungsrenten dann zurücktritt, wenn eine medizinisch begründete Besserung „nur mit geringer Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit“ zu erwarten ist.

Der Fall: Vom Reha-Aufenthalt zur klageweisen Durchsetzung

Der 1976 geborene Kläger hatte nach einem psychosomatischen Reha-Aufenthalt (3. September bis 5. Oktober 2018) am 31. Januar 2019 eine Rente wegen Erwerbsminderung beantragt. Die Deutsche Rentenversicherung lehnte die begehrte Dauerbewilligung ab und bot lediglich die – gesetzlich vorgesehene – befristete Zeitrente an.

Das Sozialgericht gab dem Versicherten in erster Instanz Recht; die Rentenversicherung legte Berufung ein – erfolglos. Das LSG schloss sich den Feststellungen der Vorinstanz vollständig an.

Insbesondere stützte es sich auf mehrere Gutachten, die dem Kläger eine tägliche Leistungsfähigkeit von weniger als drei Stunden bescheinigten.

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Der rechtliche Rahmen: § 43 und § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI

Die Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 SGB VI) setzt voraus, dass Versicherte unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr als drei Stunden täglich arbeiten können. Grundsätzlich schreibt § 102 Abs. 2 SGB VI eine Befristung solcher Renten auf regelmäßig höchstens drei Jahre vor, um die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit bei positiver Gesundheitsprognose nicht zu blockieren.

Der Gesetzgeber hat dieses „Regel-Ausnahme-Prinzip“ indes durch eine entscheidende Öffnungsklausel ergänzt: § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI bestimmt, dass eine Dauerrente bewilligt werden muss, wenn eine „rentenrechtlich relevante Steigerung der Leistungsfähigkeit als unwahrscheinlich“ erscheint.

Leitsatz des LSG Hamburg

Das LSG verdichtete seine Entscheidung in einem ebenso prägnanten wie weittragenden Leitsatz:

1. Versicherte haben Anspruch auf die Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr als drei Stunden täglich erwerbsfähig sind. Die Rente ist auf Dauer zu bewilligen, wenn die krankheitsbedingten Leistungseinschränkungen nur mit geringer Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit behoben werden können.

2. Damit wird die in § 102 Abs. 2 Satz 5 verankerte Ausnahme nicht länger als seltene Randerscheinung verstanden, sondern als vollwertiges Korrektiv zur gesetzlichen Regelbefristung.

Der Fall zeigt, wie sehr sich die Streitfragen um Erwerbsminderungsrenten in den vergangenen Jahren in Richtung psychischer Krankheitsbilder verschoben haben.

Anders als bei somatischen Leiden, die sich häufig objektivierbar messen oder operativ behandeln lassen, liegen bei schwerwiegenden Persönlichkeitsstörungen Prognosen zur Besserung regelhaft im Ungewissen.

Das LSG betont, dass der Kläger „nicht mehr zu sozialer Interaktion fähig“ sei und eine Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit nach einhelliger gutachtlicher Ansicht ausgeschlossen werde.

Damit ist der Fall symptomatisch für viele Verfahren, in denen psychisch erkrankte Versicherte lange gegen die Standardbefristung ankämpfen müssen.

Regelausnahmeprinzip in der Praxis der Rentenversicherung

Obwohl die Deutsche Rentenversicherung ihre Verwaltungspraxis an § 102 Abs. 2 Satz 5 ausgerichtet hat, zeigen interne Arbeitshinweise, dass eine unbefristete Bewilligung in der Praxis selten erfolgt und regelmäßig besonders eingehender Begründungen bedarf.

Das Urteil rückt deshalb das Spannungsverhältnis zwischen gesetzlichem Normalfall (Zeitrente) und gesetzlich vorgesehener Ausnahme (Dauerrente) neu ins Bewusstsein.

Mögliche Rechtsmittel und Folgewirkungen

Die Entscheidung des LSG ist noch nicht höchstrichterlich überprüft worden; eine Revision zum Bundessozialgericht wurde nicht zugelassen. Auch wenn außerordentliche Rechtsmittel theoretisch offenstünden, ist eine Korrektur auf Bundesebene derzeit nicht absehbar.

Damit entfaltet das Urteil zwar keine unmittelbare Bindungswirkung über Hamburg hinaus, es liefert jedoch starke Argumentationen für künftige Klagen schwer chronisch erkrankter Versicherter bundesweit.

Bedeutung für Betroffene und ihre Beraterinnen und Berater

Für Betroffene hebt das Urteil die Hürde, eine lebenslange Erwerbsminderungsrente zu erhalten, ein Stück weit ab. Wichtig bleibt, dass medizinische Unterlagen die Prognose „Besserung unwahrscheinlich“ klar und konsistent belegen.

Nur dann können Sozialgerichte § 102 Abs. 2 Satz 5 erfolgreich aktivieren. Zugleich sendet das Urteil das Signal, dass sich Verfahren trotz langwieriger gerichtlicher Auseinandersetzungen lohnen können, wenn die medizinische Sachlage eindeutig ist.

Einordnung in die bisherige Rechtsprechung

Schon andere Landessozialgerichte haben in vergleichbaren Konstellationen unbefristete Renten zugesprochen, doch handelt es sich nach wie vor um Einzelfallentscheidungen. Das Hamburger Urteil betont jedoch deutlicher als viele Vorgänger, dass nicht nur terminale oder degenerative Krankheiten eine Dauerrente rechtfertigen, sondern auch schwere, chronisch-psychische Störungen ohne greifbare Besserungsperspektive.

Ausblick

Solange der Gesetzgeber das Regelausnahmeprinzip nicht nachjustiert, wird die Rechtspraxis weiterhin von der Güte medizinischer Gutachten und der sorgfältigen Würdigung durch die Gerichte abhängen.

Das Urteil des LSG Hamburg dürfte aber bereits jetzt intern zu einer sensibleren Prüfung chronischer Fälle beitragen.

Für Betroffene und Berater bedeutet das: Gut dokumentierte, prognostisch gesicherte Krankheitsbilder eröffnen realistische Chancen, die Hürde zur Dauerrente zu überwinden – selbst wenn die Rentenversicherung zunächst nur befristet bewilligt.