Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat mit seinem Urteil vom 19. März 2025 (Az. L 6 AS 111/23) ein deutliches Zeichen gesetzt: Eltern, die während ihrer Elternzeit in eine Schieflage geraten und deshalb zusätzlich Bürgergeld beantragen, handeln nicht sozialwidrig. Damit stärkt das Gericht die soziale Absicherung von Familien, die ihr Erwerbseinkommen zeitweise zugunsten der Kinderbetreuung reduzieren.
Inhaltsverzeichnis
Der konkrete Fall: Ein Vater in Elternzeit braucht Unterstützung
Auslöser des Verfahrens war ein Familienvater aus Nordhessen. Nach der Geburt des dritten Kindes nahm er Elternzeit, sein monatliches Nettoeinkommen von knapp 1 538 Euro fiel damit weitgehend weg.
Das Elterngeld konnte diese Einbuße nicht ausgleichen, also stellte die fünfköpfige Familie einen Antrag auf Bürgergeld. Zunächst bewilligte das Jobcenter die Leistung, forderte sie aber bald darauf in voller Höhe zurück. Die Behörde warf dem Vater vor, sich bewusst in den Leistungsbezug manövriert zu haben, um „Doppelzahlungen“ zu erhalten.
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Elternzeit als „wichtiger Grund“ im Sinne des § 34 SGB II
Kernpunkt des Rechtsstreits war § 34 SGB II. Die Vorschrift verpflichtet Leistungsbeziehende grundsätzlich zur Rückzahlung, wenn sie ihre Hilfebedürftigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig selbst herbeiführen und dafür kein „wichtiger Grund“ vorliegt.
Nach Auffassung des LSG ist die Inanspruchnahme von Elternzeit jedoch gerade ein solcher wichtiger Grund. Der Gesetzgeber fördere die berufliche Auszeit mit dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz ausdrücklich, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Gleichstellung der Geschlechter zu verbessern.
Bürgergeld, Elterngeld und Elternzeit
Das Urteil betont, dass Bürgergeld und Elterngeld unterschiedliche sozialpolitische Funktionen erfüllen: Das Elterngeld ersetzt einen Teil des wegfallenden Einkommens (65 bis 67 Prozent des Nettogehalts), während das Bürgergeld eine existenzsichernde Grundsicherung darstellt, wenn alle übrigen Mittel nicht ausreichen.
Beide Leistungen können sich daher in Übergangsphasen ergänzen, ohne dass automatisch ein Missbrauchstatbestand entsteht. Entscheidend ist, dass die Elternzeit tatsächlich zur Betreuung des Kindes genutzt wird.
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Bescheid prüfenGrenzen: Vorsätzlicher Missbrauch bleibt sanktionierbar
Gleichzeitig zog das Gericht eine deutliche Grenze. Wer die Elternzeit nur vortäuscht, sich de facto nicht um das Kind kümmert und allein den Bezug zusätzlicher Leistungen im Blick hat, riskiert nach wie vor Rückforderungen.
Jobcenter tragen jedoch die Beweislast und müssen konkrete Indizien für einen Missbrauch vorlegen. Im vorliegenden Verfahren fehlten solche Anhaltspunkte, weshalb der Rückforderungsbescheid aufgehoben wurde.
Praktische Folgen für Betroffene und Jobcenter
Für Familien bedeutet das Urteil vor allem Planungssicherheit: Wer aus familiären Gründen seine Arbeitszeit vorübergehend reduziert, muss nicht mehr befürchten, später rückwirkend hohe Summen an das Jobcenter zurückzahlen.
Jobcenter wiederum sind gehalten, jeden Einzelfall sorgfältig zu prüfen und dürfen sich nicht allein auf den Umstand stützen, dass die Elternzeit die Hilfebedürftigkeit ausgelöst hat.
In der Praxis dürfte das zu mehr Einzelfallermittlungen, aber auch zu weniger pauschalen Rückforderungsbescheiden führen.
Einordnung in die Familien- und Arbeitsmarktpolitik
Langfristig stärkt die Entscheidung das Leitbild einer partnerschaftlichen Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit. Indem sie finanzielle Risiken mindert, erleichtert sie insbesondere Vätern den Schritt in eine aktive Elternzeit – ein erklärtes Ziel der Bundesregierung.
Zugleich erinnert das Urteil daran, dass die Grundsicherungssysteme flexibel auf Lebensphasen reagieren müssen, die mit Einkommenseinbußen verbunden sind, ohne Stigmatisierung und ohne leichtfertige Missbrauchsvermutungen.
Ausblick: Offene Fragen und mögliche Gesetzesänderungen
Ob das Urteil bundesweit Schule macht, hängt davon ab, ob andere Landessozialgerichte die Linie des LSG Hessen übernehmen oder ob der Fall in letzter Instanz vor dem Bundessozialgericht landet.