Eine unter 25 – jährige Leistungsbezieherin hat Anspruch auf Bürgergeld Regelbedarfsstufe 1 im Eilverfahren bei erforderlichem Auszug aus dem elterlichem Haushalt.
1. Die Zusicherung nach § 22 Absatz 5 bei unter 25 – jährigen Bürgergeldbeziehern ist anders als diejenige nach § 22 Absatz 4 SGB II bei über 25 – jährigen – nicht an ein konkretes Mietangebot – gebunden ( vgl. BSG, Urteil vom 25. April 2018 – B 14 AS 21/17 R – ).
2. Eine einmal erteilte Zusicherung gemäß § 34 Absatz 3 SGB X bindet das Jobcenter nach Art einer Grundentscheidung dauerhaft an die Rechtsfolge, dem unter 25-jährigen Leistungsberechtigten Unterkunftskosten zu gewähren, und gilt auch für das später zuständig werdende JobCenter! ( vgl. LSG BB, Urteil vom 22. Dezember 2010 – L 18 AS 2041/09 – ).
Leitsatz Detlef Brock
Ein Umzug einer depressiven, unter gesetzlicher Betreuung stehenden alleinerziehenden unter 25 – jährigen Bürgergeldempfängerin aus dem elterlichem Haushalt ist erforderlich, wenn die Mutter-Kind-Beziehung über ein im familiären Zusammenleben übliches Konfliktpotenzial hinaus gestört ist , das Jugendamt den Umzug befürwortet und wenn der neue Partner ihrer Mutter sie der Wohnung verwiesen hat.
Die Vorgeschichte
Die 2002 geborene, erwerbsfähige, alleinstehende Antragstellerin steht seit dem Jahre 2022 unter gesetzlicher Betreuung und lebte zunächst bis November 2021 im Haushalt ihrer geschiedenen Mutter, deren neuem Partner und fünf Geschwistern.
Sie wurde von Ende 2021 bis zum Februar 2022 im Fachklinikum Göttingen stationär behandelt. Bei ihr wurden eine Depression, eine Persönlichkeitsstörung und eine Essstörung diagnostiziert.
Das Jobcenter erteilte im September 2021 gemäß § 22 Absatz 5 SGB II eine Zusicherung zur Anmietung einer Wohnung und begründete dies damit, dass das Jugendamt eine unzumutbare Härte bezüglich des Zusammenlebens mit der Mutter festgestellt habe. Ihr neuer Partner habe die Antragstellerin der Wohnung verwiesen.
Die Antragstellerin hat seit der Entlassung aus der Fachklinik keinen festen Wohnsitz und befindet sich auf Wohnungssuche, die bislang nicht erfolgreich war. Ausweislich der Bescheinigung der Einrichtung Ambulant Betreutes Wohnen nutzte sie wegen ihrer Wohnungslosigkeit als Postadresse die Anschrift der Einrichtung.
Im Mai 2022 stellte die Antragstellerin gegenüber dem Jobcenter einen Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und erklärte in ihrer Stellungnahme u.a., dass unzumutbare Wohnumstände zu Hause bestanden hätten und sie lieber obdachlos sei, als bei ihren Eltern zu wohnen.
Im Jahr 2023 wurde der Antragstellerin Arbeitslosengeld II bzw. Bürgergeld ausschließlich in Form des Regelbedarfs nach der Regelbedarfsstufe 3 vom Jobcenter bewilligt. Allso nur ein abgesenkter Regelbedarf, allso 471 €, statt richtigerweise 563 €.
Der Widerspruch der Betroffenen wurde vom Jobcenter abgelehnt, weil sie ohne Zusicherung ausgezogen sei, aufgrund dessen die Leistungsbezieherin bei Gericht einstweiligen Rechtschutz beantragte.
Das Jobcenter lehnte den Widerspruch ab mit der Begründung, dass die Zusicherung unwirksam geworden sei.
Das SG Hildesheim, Beschluss vom 05.06.2024 – S 26 AS 4060/24 ER – urteilte wie folgt
Die leistungsberechtigte, unter 25-jährige Antragstellerin hat zur Überzeugung der Kammer sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt.
Sie hat aus Sicht des Gerichts als alleinstehende, erwerbsfähige Person gemäß § 20 Absatz 2 Satz 1 SGB II Anspruch auf Bürgergeld nach der Regelbedarfsstufe 1, und zwar unter Zugrundelegung eines Regelbedarfes in Höhe von monatlich 563,-Euro, weshalb die Differenz ihr nach zu zahlen war.
Gemäß § 20 Absatz 3 SGB II ist abweichend von § 20 Absatz 2 Satz 1 bei Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und ohne Zusicherung des zuständigen kommunalen Trägers nach § 22 Absatz 5 umziehen, bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres der in § 20 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 genannte Betrag (Regelbedarfsstufe 3) als Regelbedarf anzuerkennen.
Im vorliegenden Einzelfall hat die Antragstellerin anlässlich des Auszuges aus dem Haushalt der Mutter eine fortwirkende und nicht unwirksam gewordene Zusicherung gemäß § 22 Absatz 5 SGB II von dem zum damaligen Zeitpunkt örtlich zuständigen Jobcenter erhalten, wobei die Entscheidung nach eingehender Prüfung unter Hinzuziehung des Jugendamtes getroffen wurde.
Denn: Diese Zusicherung stellt einen Verwaltungsakt gemäß §§ 34, 31 Satz 1 SGB X dar, welche – anders als nach § 22 Absatz 4 SGB II – nicht an eine bestimmte Unterkunft gebunden ist (vgl. Urteil des BSG vom 25. April 2018 – B 14 AS 21/17 R – ).
Des weiteren bindet eine einmal erteilte Zusicherung gemäß § 34 Absatz 3 SGB X das Jobcenter nach Art einer Grundentscheidung dauerhaft an die Rechtsfolge, dem unter 25-jährigen Leistungsberechtigten Unterkunftskosten zu gewähren, und gilt auch für den später zuständig werdende Jobcenter (vgl. Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 22. Dezember 2010 – L 18 AS 2041/09 – ).
So liegt es auch im vorliegenden Einzelfall.
Die Zusicherung nach Absatz 5 ist anders als diejenige nach Absatz 4 nicht an ein konkretes Mietangebot gebunden.
Die einmal erteilte Zusicherung ist dergestalt zu verstehen, dass der Antragstellerin bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres im Sinne einer Grundentscheidung (ohne Verpflichtung zur tatsächlichen Wohnungsanmietung) gestattet ist, eine eigene Wohnung außerhalb des Haushalts der Eltern zu beziehen, ohne im Falle der Hilfebedürftigkeit den Leistungsanspruch auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Absatz 1 SGB II zu verlieren.
Die Norm des § 20 Absatz 3 SGB II setzt einen Auszug aus dem Haushalt der Eltern voraus und knüpft die Regelbedarfsstufe an den formalen Akt der Zusicherung nach § 22 Absatz 5 SGB II.
Die entsprechenden Leistungsvoraussetzungen des § 20 Absatz 3 SGB II sind vorliegend gegeben, d.h., sie hat Anspruch auf den vollen Regelsatz.
Zum 1. entfaltet die erteilte Zusicherung nach § 22 Absatz 5 SGB II weiterhin Bindungswirkung.
Die Antragstellerin ist andererseits dauerhaft aus dem Haushalt der Mutter ausgezogen und befindet sich seit dem Ende des stationären Aufenthalts ohne festen Wohnsitz mit gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Jobcenters, dessen örtliche Zuständigkeit gemäß § 36 Absatz 1 SGB II unstreitig ist.
Die Wohnungslosigkeit belegt insbesondere die Tatsache, dass das Jobcenter die an die Antragstellerin adressierten Leistungsbescheide an die Adresse der Einrichtung übersandte. Nach der Stellungnahme der Einrichtung Betreutes Wohnen sei die Antragstellerin wohnungslos.
Von der Wohnungslosigkeit geht somit offenbar auch die Behörde aus. Zudem verfolgt die anwaltlich vertretene Antragstellerin in diesem Rechtsstreit lediglich einen höheren Regelbedarf, ohne Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu beanspruchen.
Dazu Rechtsanwalt Sven Adam aus Göttingen:
Bürgergeld: Unter 25 – jährige Leistungsbezieherin hat Anspruch auf Regelbedarfsstufe 1 im Eilverfahren bei erforderlichem Auszug aus dem elterlichem Haushalt
Die Zusicherung nach § 22 Abs. 5 S. 1 SGB II für eine unter 25-jährigen zum Auszug aus dem elterlichen Haushalt wegen schwerwiegenden sozialen Gründen ist ein Verwaltungsakt und wirkt auch dann fort, wenn zwischenzeitlich der örtliche Leistungsträger wechselt.
Die Zusicherung nach § 22 Abs. 5 S. 1 SGB II ist nicht wie die Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II an ein konkretes Mietangebot gebunden.
Für die Gewährung der Regelbedarfsstufe 1 statt 3 besteht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Eilbedürftigkeit (der Anordnungsgrund). Mein Dank gilt RA Sven Adam
Hinweis:
Diesen Beitrag schrieb ich einmal für den Sozialrechtsexperten RA Ludwig Zimmermann, Potsdam – er gilt auch für das Bürgergeld!
Wann ist der Umzug für einen unter 25 – jährigen Leistungsbezieher aus der elterlichen Wohnung erforderlich?
Der Wunsch, mit dem Freund zusammenzuziehen, macht den Umzug einer unter 25- jährigen aus der elterlichen Wohnung nicht erforderlich, denn er ist kein ähnlich schwerwiegender Grund wie die Unzumutbarkeit der Verweisung auf die elterliche Wohnung aus schwerwiegenden sozialen Gründen im Sinne von § 22 Absatz 5 Satz 2 Ziff. 1 SGB II (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19.09.2012 – L 5 AS 613/12 B ER).
Der Umzug der unter 25-jährigen Auszubildenden aus der elterlichen Wohnung war erforderlich, weil ihr die Pendelzeiten nicht zumutbar wären, somit hier zum Zwecke der Beibehaltung eines Ausbildungsplatzes bzw. zur Eingliederung in Arbeit (vgl. LSG Sachsen- Anhalt, Beschluss vom 11.09.2012 – L 5 AS 461/11 B). weiter hier, mit Nennung von vielen Urteilen und Hinweisen.
Rechtstipp: SG Hannover, Beschluss v. 07.06.2018 – S 43 AS 1317/18 ER – veröffentlicht Tacheles Rechtsprechungsticker KW 30/2018 und Zeitschrift info also 2018, 204
Sozialgerichtliches Verfahren – einstweiliger Rechtsschutz – Grundsicherung für Arbeitsuchende – Zusicherung zur umzugsbedingten Übernahme von Unterkunftskosten für Leistungsberechtigte bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres – keine Kürzung der Regelleistung – Zusicherungserfordernis – Zumutbarkeit – schwerwiegender sozialer Grund – Indiz – gestörtes Mutter Kind Verhältnis
Jugendamt muss Umzug unter 25 jähriger nicht befürworten, ist aber Indiz bei Zusicherung durch das JobCenter (hier bejahend wegen gestörtem Mutter Kind Verhältnis)
Orientierungssatz (Redakteur)
1. Im Rahmen des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach Maßgabe des § 86b Abs 2 Satz 2 SGG führt die Verpflichtung eines SGB II Leistungsträgers zur Erteilung einer Zusicherung nach Maßgabe des § 22 Abs 5 SGB II (Zusicherung zur umzugsbedingten Übernahme der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für leistungsberechtigte Personen bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres) zu einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache.
Liegen insoweit aber die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vor, kann es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten sein, den Leistungsträger vorläufig zur Gewährung von Kosten für Unterkunft und Heizung für die neue Unterkunft des Leistungsberechtigten zu verpflichten ( LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 02.02.2017 – L 11 AS 983/16 B ER – ).
2. Der junge Leistungsberechtigte kann zu mindestens dann aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden, wenn die Eltern Kind Beziehung tiefgreifend gestört ist ( vgl. LSG Sachsen- Anhalt, Beschluss v. 16.06.2010 – L 5 AS 383/09 B ER ).
3. Gerade wegen der Entwicklung Jugendlicher und dem SGB II, Eigenverantwortung zu fördern, dürfen die Anforderungen an den Schweregrad hierbei nicht überzogen werden.
4. Die Einschaltung des Jugendamtes ist nicht Voraussetzung aber Indiz dafür, dass der notwendige Schweregrad erreicht ist ( vgl. Sächsisches LSG, Beschluss v. v. 21. 01.2008 – L 2 B 621/07 AS-ER).
Volltextbereitstellung durch Mark Schäfer, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sozialrecht
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Detlef Brock ist Redakteur bei Gegen-Hartz.de und beim Sozialverein Tacheles e.V. Bekannt ist er aus dem Sozialticker und später aus dem Forum von Tacheles unter dem Namen “Willi2”. Er erstellt einmal wöchentlich den Rechtsticker bei Tacheles. Sein Wissen zum Sozialrecht hat er sich autodidaktisch seit nunmehr 17 Jahren angeeignet.