Bürgergeld: Rechtswidrige Anrechnung von Kindergeld trotz Weisungslage des Jobcenters

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Keine fiktive Anrechnung des Kindergeldes an das Bürgergeld trotz einer verbindlichen Weisungslage des Jobcenters, wenn die Familienkasse nicht mitwirkt.

Denn das SGB II kennt keine “fiktive Einkommensanrechnung”.

1. In der mangelnden Mitwirkungshandlung gegenüber einem Dritten, hier der Familienkasse, liegt keine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 40 Abs. 1 SGB II vor.

2. Eine wesentliche Änderung kann auch nicht entsprechend der Rechtsauffassung des Jobcenters darin gesehen werden, dass nunmehr wegen mangelnder Mitwirkungshandlungen des Leistungsbeziehers (LB) Kindergeld fiktiv anzurechnen wäre, weil es – hätte der LB entsprechend mitgewirkt – ihm als Einkommen gezahlt worden wäre, er somit seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II verringert hätte.

Dieses Vorgehen mag der Weisungslage des JC entsprechen, ist jedoch rechtswidrig.

3. Denn maßgebend ist allein der tatsächliche Zufluss von anderen Leistungen oder von Einkommen.

Es ist gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, dass die Minderung eines Bedarfes anders als durch tatsächlich zufließendes Einkommen (und Vermögen) ausscheidet (BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 161/11 R).

Begründung:

Das Jobcenter ist der Auffassung, der Antragsteller müsse sich seine mangelnde Mitwirkungshandlung gegenüber der Familienkasse, die in dem mangelnden Nachweis seiner Ausbildungssuche bestanden habe, zurechnen lassen.

Fiktive Anrechnung von Kindergeld sei statthaft bei mangelnder Mitwirkung

Der Antragsteller habe seine Mitwirkungsverpflichtungen gegenüber der Familienkasse nicht ausreichend erfüllt, was gemäß § 5 Abs. 3 SGB II dazu führe, das ihm ggfs. zustehende, jedoch nicht bewilligte, Kindergeld fiktiv auf seine Leistungen nach dem SGB II anzurechnen.

Weisungslage des Jobcenters ermächtigt ihre Sachbearbeiter zur fiktiven Anrechnung von Einkommen bei unterlassener Mitwirkung

Hierbei handele es sich zu der fiktiven Anrechnung des Kindergeldes um eine verbindliche Weisungslage, von welcher der Beklagte nicht abweichen könne.

Dem ist das Gericht trotz der Weisungslage des Jobcenters aber nicht gefolgt und das zu Recht

Denn in der mangelnden Mitwirkungshandlung gegenüber einem Dritten, hier der Familienkasse, liegt eine wesentliche Änderung nicht.

Es lag keine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, § 40 Abs. 1 SGB II vor

Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse beim Antragsteller kann auch nicht entsprechend der Rechtsauffassung des Jobcenters darin gesehen werden, dass nunmehr wegen mangelnder Mitwirkungshandlungen des Klägers Kindergeld fiktiv anzurechnen wäre.

Weil es – hätte der Kläger entsprechend mitgewirkt – ihm als Einkommen gezahlt worden wäre, er somit seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II verringert hätte.

Dieses Vorgehen mag der Weisungslage des JobCenters entsprechen, ist jedoch rechtswidrig

Denn maßgebend ist allein der tatsächliche Zufluss von anderen Leistungen oder von Einkommen.

Es entspricht gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes, dass die Minderung eines Bedarfes anders als durch tatsächlich zufließendes Einkommen (und Vermögen) ausscheidet (Bundessozialgericht, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 161/11 R – )

Kein tatsächlicher Zufluss von Kindergeld

Da dem Antragsteller keine Kindergeldleistungen zugeflossen sind, ist es bei ihm nach der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch tatsächlich nicht anzurechnen.

Zweifel an diesem Ergebnis bestehen zur vollen Überzeugung der Kammer angesichts der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. auch BSG, Urteil vom 14.03.2012, B 14 AS 98/11 R – ) nicht.

Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock

Fiktives Einkommen kennt das SGB II nicht.

So kann auch ein fiktiver Unterhalt, eine fiktive Rente oder Kinderzuschlag nicht angerechnet werden, wenn es tatsächlich nicht gezahlt wird.

Die Anrechnung von fiktivem Einkommen verstößt gegen den Bedarfsdeckungsgrundsatz.

Im Laufe der Jahre hat die BA ihre Weisungen geändert und die Anrechnung von fiktivem Einkommen verboten.

Aber seit auf der Hut, erst kürzlich sah ich wieder eine fiktive Einkommensanrechnung von Unterhaltsvorschuss aufgrund mangelnder Mitwirkung der Antragstellerin.

Nach gefestigter Rechtsprechung des BSG zum Einkommen kann nur tatsächliches Einkommen angerechnet werden, es muss dem Leistungsbezieher verbleiben und einen Zuwachs bedeuten.

Aufgrund der bloßen Möglichkeit, anderweitige Sozialleistungen zu erhalten, erzielt er kein Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II.

Einnahmen in Geld sind nur dann Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wenn sie zugeflossen und geeignet sind, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken; es muss sich um bereite Mittel handeln.

Gerade die Formulierung in § 9 Abs. 1 SGB II, dass die Leistungen anderer Sozialleistungsträger nur zu berücksichtigen sind, wenn der Hilfebedürftige sie erhält, verdeutlicht, dass es auf deren tatsächlichen Zufluss ankommt.

Dementsprechend ist die Anrechnung fiktiven Einkommens zur Bedarfsminderung ausgeschlossen, was selbst dann gilt, wenn der Leistungsberechtigte eine naheliegende Selbsthilfe unterlässt.

Die Hilfebedürftigkeit kann dabei auch nicht unabhängig vom Einkommen im Sinne des § 11 SGB II unter Rückgriff auf § 5 SGB II verneint werden.

§ 5 SGB II regelt keine weitere Möglichkeit der faktischen Bedarfsdeckung neben der Bedarfsdeckung durch Einkommen und Vermögen (vgl. G. Becker in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 5, Stand: 17.12.2021, Rn. 29 , LSG Hessen L 6 AS 486/20 ).

Neue Weisungslage der BA zur Anrechnung von Einkommen – Stand 01.07.2023

Fiktive Einnahmen

(3) Eine fiktive Berücksichtigung erwarteter Zuflüsse von Sozialleistungen ist nicht zulässig. Gegebenenfalls ist ein Erstattungsanspruch anzuzeigen (Quelle).

Schlussbemerkung:

Leider halten sich die Jobcenter nicht immer daran.

In irgend einem Urteil habe ich kürzlich gelesen, dass die Jobcenter in einem Dilemma stecken, so das Gericht, denn weder § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II greift noch § 34 SGB II, wenn es darum geht, dass Leistungsbezieher nicht ihrer Mitwirkungspflicht nach kommen bei Antragstellung z. Bsp. auf Kindergeld, Kinderzuschlag, Bafög oder Rente.

Dem kann ich nur beipflichten und das Gericht führte weiter aus, dass hier der Gesetzesgeber gefragt sei.

Jetzt noch mal eine aktuelle Aufstellung, warum § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II bei Beantragung des Kindergeldes durch die Leistungsbezieherin selbst, dieser Antrag aber z. Bsp. aufgrund fehlender Mitwirkung von der Familienkasse abgelehnt wird, keine – Anwendung finden kann, tut es das JC doch, muss man hier sofort in den Widerspruch/Klage auf Auszahlung der Leistung ALG II.

Denn

Schon nach dem Wortlaut des § 5 SGB II ist dies nämlich nur möglich, wenn ein Antrag des JobCenters vorliegt.

Dies setzt aber voraus, dass das JobCenter zur Antragstellung auffordert und dieser Antrag nicht erfolgt.
Wenn ein selbst gestellter Antrag abgelehnt wird, ist der Anwendungsbereich für eine Versagung bzw. Entziehung vom Jobcenter nicht eröffnet ( so auch ausführlich RA Kay Füßlein, Berlin zu SG Berlin S 127 AS 3296/24 ER ).

Auch ein Hinweis, warum § 34 SGB II hier bei dieser Sachlage keine Anwendung findet.

1. Der Regelungsbereich des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II ist nur dann eröffnet, wenn der Leistungsempfänger trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellt und stattdessen das Jobcenter einen solchen Antrag stellt.

2. Stellt der Leistungsempfänger den Antrag hingegen selbst, ist die Regelung nicht anwendbar.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Antragstellung aus freien Stücken oder nach Aufforderung des Jobcenters erfolgt war ( so ausdrücklich LSG NSB, mit Urteil vom 20.12.2019 – L 9 AS 538/19 -; ganz aktuell LSG Sachsen, Beschluss v. 03.01.2024 – L 4 AS 567/23 B ER – ).

3. Auch wenn § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II dem Jobcenter nach seinem Wortlaut kein Ermessen im Hinblick auf das Ob einer Entziehung oder Versagung einräumt, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

Dennoch bleiben dem Jobcenter auch dann noch Handlungsalternativen, die eine behördliche Entscheidung erfordern, nämlich ob Leistungen versagt oder entzogen werden und in welchem Umfang dies erfolgt. Gerade im Hinblick auf die Höhe der Versagung oder Entziehung müssen die SGB II-Leistungsträger alle Umstände des konkreten Einzelfalls berücksichtigen.

So hat das BSG bereits für die Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Leistungen gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 1. Halbsatz SGB II auf die Befugnis und Verpflichtung der Jobcenter hingewiesen, die Interessen des Leistungsberechtigten mit den Interessen der Allgemeinheit abzuwägen und auf dieser Grundlage ihr Entschließungsermessen auszuüben (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.2022 – B 4 AS 60/21 R -).

Darum bedarf es jedenfalls über den Umfang der Versagung oder Entziehung nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II einer Ermessensentscheidung des Jobcenters (vgl. auch Sächsisches LSG, Beschluss vom 06.01.2023 – L 7 AS 591/22 B ER – ).

4. Die Entziehung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Versagen von Leistungen eines anderen Trägers bedarf einer Ermessensentscheidung, bei der das Recht über Leistungsminderungen zu berücksichtigen ist, vorliegend ist das zu berücksichtigen z. Bsp.

Bei Beantragung von Kinderzuschlag, Kindergeld, Unterhaltsvorschuss, Bafögantrag oder Beantragung von Renten.

5. Bei einer solchen Ermessensentscheidung ist die (sog. Sanktions-) Entscheidung des BVerfG vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 zu berücksichtigen, zumal anders als bei sog. Sanktionsentscheidungen (§ 31a Abs. 3 SGB II in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung) bei einer vollständigen Entziehung von existenzsichernden Leistungen keine Erbringung von Sachleistungen oder geldwerter Leistungen gesetzlich vorgesehen ist.

Und auch nach dem Inkrafttreten des sog. Bürgergeld-Gesetzes vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) „Leistungsminderungen“ (Kapitel 3 Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 SGB II) ab Januar 2023 weiterhin auf insgesamt 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs begrenzt sind (vgl. z.B. § 31a Abs. 1 Satz 3, Abs. 4 SGB II).

Wenn § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II nicht zur Anwendung kommen kann, weil zum Beispiel der Leistungsbeziehende den Antrag selbst gestellt hat ( vgl. dazu aktuell SG Berlin, Beschluss vom 29.07.2024 – S 127 AS 3296/24 ER – zur Beantragung der Rente durch den Leistungsbezieher – mit Hinweis RA K. Füßlein), hat das Jobcenter nochals letztes die Möglichkeit über § 34 SGB II.

Doch auch das dürfte kaum greifen, weil zum Bsp. folgendes gilt

Das Unterlassen der Mitwirkung an der Geltendmachung der Kindergeldansprüche stellt kein sozialwidriges Verhalten i. S. d. § 34 SGB II dar ( LSG Hamburg, Urt. v. 04.04.2023 – L 4 AS 146/22 D – ).

Die Voraussetzungen eines Ersatzanspruchs des Grundsicherungsträgers nach § 34 SGB 2 sind nicht erfüllt, wenn es an der Sozialwidrigkeit des Verhaltens des Grundsicherungsberechtigten fehlt.
Entscheidend ist, ob das Tun oder Unterlassen aus Sicht der Solidargemeinschaft zu missbilligen ist.

Hierzu zählt nicht die fehlende Mitwirkung an der Geltendmachung eines Kindergeldanspruchs durch den Grundsicherungsberechtigten.
Für die Frage der Sozialwidrigkeit ist nicht die Perspektive des Leistungsträgers entscheidend, sondern diejenige der Solidargemeinschaft.

Zahlreiche Rechtsfragen sind im Zusammenhang mit dieser seit 01.01.2017 geltenden Neuregelung ungeklärt – § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II

So wird vertreten, Voraussetzung sei, dass auch die Aufforderung zur Beantragung vorrangiger Leistungen rechtsfehlerfrei erging (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 12.11.2021 – L 6 AS 401/19 – ).

Uneinigkeit besteht in der Literatur, ob die Einfügung des Satzes 3 dazu führt, dass daneben nicht mehr die Möglichkeit der Versagung oder Kürzung der Leistung nach § 66 SGB I besteht, wenn der Hilfesuchende, der bis zur Bewilligung vorrangiger Leistungen durch den anderen Träger weiterhin SGB II-Leistungen bezog, seine Mitwirkungspflichten im Verfahren des vorrangigen Leistungsträgers verletzt

(dafür: Ernst-Wilhelm Luthe in: Hauck/Noftz SGB II, 10. Ergänzungslieferung 2023, § 5 SGB 2, Rn. 250; dagegegen wohl: S. Knickrehm in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 5 Rn. 36: vgl. auch G. Becker in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 5 (Stand: 04.10.2023), Rn. 102).

Auch in der Rechtsprechung ist noch nicht entschieden, ob die Regelungen in § 5 Abs. 3 SGB II die Möglichkeiten des Leistungsträgers im Falle einer nicht (ausreichenden) Mitwirkung des Hilfebedürftigen bei der Beantragung vorrangiger Leistungen abschließend und vorrangig regelt oder nicht

(vgl. z.B. LSG Hamburg, Urteil vom 04.04.2023 – L 4 AS 146/22 D – ).

Offen ist schließlich die aufgeworfene Frage, ob § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II überhaupt anwendbar ist, wenn der Leistungsberechtigte den Antrag gestellt hat, zu dem er aufgefordert worden ist, soweit auf diesen und nicht auf einen Antrag des Jobcenters nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II Leistungen versagt worden sind (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 06.01.2023 – L 7 AS 591/22 B ER – ).

Jedenfalls nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II tritt diese Rechtsfolge nur ein, wenn der Antrag des Leistungsberechtigten durch einen behördlichen Antrag i.S.d. § 5 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz SGB II ersetzt wird ( so ausführlich LSG Sachsen, v. 03.01.2024 – L 4 AS 567/23 B ER – ).