Ein Mann mit künstlichen Gelenken, Rheuma und Schlafapnoe kämpft um seine Zukunft – und verliert. Welche Schlüsse aus dem Urteil L 7 R 970/21 zu ziehen sind, zeigen wir in diesem Artikel.
Inhaltsverzeichnis
Der Fall vor Gericht
Der 1962 geborene Schmied und Fahrzeugbauer war sein Leben lang körperlich tätig, bis ihn Knie- und Schulterprothesen, eine ausgeprägte Psoriasisarthritis und Adipositas per magna arbeitsunfähig machten. Nach dem Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung glaubte er, endlich finanziell abgesichert zu sein.
Das Sozialgericht Stuttgart wies die Klage im Februar 2021 ab, und das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg bestätigte diese Entscheidung am 25. Mai 2023 (Az. L 7 R 970/21). Trotz fünfzig Prozent Schwerbehinderung und jahrelangem Bürgergeldbezug sahen die Richter ein Restleistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten.
Warum das LSG Baden-Württemberg die Erwerbsminderungsrente verwehrte
Das Gericht stützte sich auf mehrere orthopädisch-rheumatologische Gutachten. Dreh- und Angelpunkt war die Sechs-Stunden-Regel: Kann eine versicherte Person unter üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts noch sechs Stunden täglich arbeiten, liegt rechtlich weder eine volle noch eine teilweise Erwerbsminderung vor.
Die Sachverständigen konstatierten, dass der Kläger zwar qualitative Einschränkungen habe – etwa kein Überkopfarbeiten, kein Heben über zehn Kilogramm, keine Feinmotorik –, quantitativ sei er jedoch in der Lage, diese Zeitspanne durchzuhalten. Eine „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen“ verneinte das Gericht, weil sich die Leiden durch arbeitsschutzrechtliche Anpassungen kompensieren ließen.
Wegefähigkeit als Entscheidungsfaktor: 500-Meter-Regel praxisnah erklärt
Ein weiterer Kernpunkt war die Wegefähigkeit. Die Richter hielten es für plausibel, dass der Mann öffentliche Verkehrsmittel nutzen und die kritische Distanz von 500 Metern in weniger als zwanzig Minuten bewältigen könne. Ohne belegte Einschränkungen bei Mobilität oder Kognition gilt der allgemeine Arbeitsmarkt als „nicht verschlossen“. Daher führt auch die reale Chancenknappheit auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht automatisch zur Rente.
So wirkt das Urteil auf Bürgergeld-Bezieher und Jobcenter-Pflichten
Wer Bürgergeld bezieht, aber gesundheitlich stark eingeschränkt ist, hofft häufig, durch eine EM-Rente aus dem Vermittlungsdruck des Jobcenters auszusteigen. Das Urteil macht jedoch deutlich: Solange medizinische Gutachten ein Mindestleistungsvermögen von sechs Stunden anerkennen, greift die Arbeitsmarkt-Fiktion.
Betroffene gelten als vermittelbar, selbst wenn in Wahrheit kaum Chancen bestehen. Das Jobcenter behält daher alle Sanktions- und Mitwirkungsinstrumente, während Versicherungszeiten für die Altersrente weiter fehlen.
Alternativen zur Rente wegen Erwerbsminderung: Schwerbehinderung & 45-Jahre-Option
Wer in den letzten Berufsjahren gesundheitlich einbricht, darf die EM-Rente nicht als verlässliche Exit-Strategie betrachten. Dennoch existieren rechtliche Wege, früher oder abschlagsfrei in den Ruhestand zu gehen. Eine Schwerbehindertenrente kann bereits zwischen 60 und 62 Jahren starten, verlangt jedoch mindestens GdB 50 und bringt je nach Geburtsjahr Abschläge bis 10,8 Prozent.
Langjährig Versicherte mit 35 Beitragsjahren können etwas früher, aber mit Kürzung in Rente. Besonders langjährig Versicherte erreichen ab 45 Jahren Pflichtbeitragszeit oft eine abschlagsfreie Altersrente ab 63 oder 64 Jahren. Bürgergeldzeiten zählen dabei nur, wenn parallel eine versicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt.
Der Einfluss von Gutachten: § 109Antrag richtig nutzen oder lieber lassen?
Der Kläger stützte sich im Verfahren auf ein § 109Gutachten, das lediglich ein Zeitvermögen von drei Stunden pro Tag sah. Das LSG erkannte darin jedoch keine tragfähige Begründung, weil zentrale Aussagen auf Selbstauskünften basierten.
Entscheidender waren die früheren Gutachten mit objektiven Messwerten zu Schulterbeweglichkeit, Kniestreckung, Faustschluss und Wirbelsäule. Für Betroffene heißt das: Behandelnde Ärzte müssen präzise Funktionsbeeinträchtigungen dokumentieren; diffuse Schmerzangaben reichen nicht.
Typische Fehler bei Nachweisen von Funktionsverlusten – und wie Betroffene sie vermeiden
Ein häufiger Irrtum besteht darin, Diagnosen statt Funktionsfolgen zu schildern. Gerichte bewerten jedoch Bewegungsmaße, Kraftwerte und Ausdauertests – nicht die Zahl der ICD-Codes.
Ebenfalls problematisch: Rehaberichte, deren Formulierungen („Belastbarkeit wiederhergestellt“) den Rentenantrag ungewollt untergraben. Wer frühzeitig Einspruch gegen missverständliche Passagen erhebt, verhindert spätere Nachteile.
„Reha vor Rente“: Worauf medizinische Berichte wirklich achten
Das Prinzip „Reha vor Rente“ bleibt gesetzlicher Auftrag. Doch Reha-Kliniken verfolgen das Ziel, Arbeitsfähigkeit zu fördern. Betroffene, denen eine tatsächliche Rückkehr in den Beruf unrealistisch erscheint, sollten Therapieziele realistisch formulieren, etwa „Erhalt der Grundfunktionen“ statt „VollzeitreIntegration“. Zudem lohnt es sich, schon in der Reha eine Kopie des Entlassungsberichts zu verlangen, um innerhalb der zweiwöchigen Frist eventuelle Korrekturen anzustoßen.
Fristen, Widerspruch, Klage: Fahrplan nach einem Ablehnungsbescheid
Nach einem negativen Bescheid bleibt nur ein Monat Zeit für Widerspruch. Danach führt der Weg direkt vor das Sozialgericht. Ein juristisch fundierter Widerspruch verweist auf konkrete Funktionsdefizite, legt neue Befunde vor und beantragt bei Bedarf eine mündliche Verhandlung. Wer dies verschleppt, riskiert jahrelange Verfahren ohne Erfolg.
Checkliste für Betroffene: Handkraft, Wegefähigkeit und Arztberichte stichfest belegen
- § 109Gutachten abwägen: Kann eine alternative Expertise objektive Messdaten liefern – und sind die Kosten gesichert?
- Handkrafttests mittels Dynamometer dokumentieren, um die Fein- und Grobmotorik faktenbasiert zu belegen.
- Wegefähigkeit nachweisen: Gehprotokolle oder GPS-Aufzeichnungen zeigen, ob die 500-Meter-Grenze realistisch ist.
- Reha-Entlassungsberichte prüfen: Missverständliche Formulierungen binnen zwei Wochen korrigieren lassen.
- Fristen im Blick: Innerhalb von vier Wochen Widerspruch einlegen, sonst droht Rechtskraft.