Bürgergeld: Landessozialgericht prangert suggestive Fragen des Jobcenters an

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Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat in einem aktuellen Beschluss die vorläufige Gewährung von Bürgergeld und Krankenversicherungsleistungen neu geregelt und dabei eine Entscheidung des Sozialgerichts Berlin abgeändert.

Der Fall bezieht sich auf die Ansprüche eines Antragstellers auf vorläufige Leistungen in Form von Bürgergeld sowie die Übernahme von Schulden aus der Krankenversicherung. Das Gericht kritisierte zudem “die suggestiven Fragen und die fehlende Unterscheidung zwischen objektiven Tatsachen und subjektiven Einschätzungen” des Jobcenters.

Streit um Bürgergeld und Krankenversicherung

Der Antragsteller, geboren im Jahr 1965, bezog ab März 2023 neben Krankengeld bzw. Arbeitslosengeld auch Bürgergeld. Anfang 2024 beantragte er eine erneute Zahlung von Bürgergeld.

Dieser Antrag wurde jedoch vom Jobcenter abgelehnt, da eine angeblich fehlende Mitwirkung des Antragstellers festgestellt wurde.

Der Antragsteller und seine ehemalige Lebensgefährtin gaben an, keine Bedarfsgemeinschaft zu bilden, sondern lediglich in einem Untermietverhältnis zu wohnen. Diese Angaben führten zu einem Streit mit dem Jobcenter über den tatsächlichen Status der Bedarfsgemeinschaft.

Antragssteller verfügt über keine Einkünfte und hat Schulden

Mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung machte der Antragsteller geltend, dass er über keine weiteren Einkünfte verfüge und die Rückstände bei der Krankenversicherung zu gravierenden Konsequenzen führen könnten.

Das Sozialgericht Berlin lehnte den Antrag zunächst ab. Gegen diese Entscheidung legte der Antragsteller jedoch Beschwerde beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg ein.

Entscheidung des Landessozialgerichts: Ansprüche auf Bürgergeld und Krankenversicherung anerkannt

Das Landessozialgericht gab der Beschwerde des Antragstellers teilweise statt. Dem Antragsteller wurde vorläufig Bürgergeld ab dem 5. September 2024 bis Ende des Jahres zugesprochen, sofern keine rechtskräftige Entscheidung in der Hauptsache vorliegt.

Das Gericht entschied, dass das Jobcenter die aufgelaufenen Beitragsschulden zur freiwilligen Krankenversicherung in Höhe von 1.935,02 Euro direkt an die AOK Nordost zu überweisen habe. Auch die Versicherungspflicht des Antragstellers sei bei der gesetzlichen Krankenversicherung zu melden.

Die Kosten des Verfahrens wurden zu drei Vierteln dem Jobcenter auferlegt. Ein Antrag auf Prozesskostenhilfe des Antragstellers wurde jedoch abgelehnt, da die erforderlichen Unterlagen nicht vorgelegt worden waren.

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Prüfung der Bedarfsgemeinschaft: Zeugenvernehmung als entscheidender Faktor

Ein wichtiger Punkt des Falles war die Frage, ob der Antragsteller und seine ehemalige Lebensgefährtin eine Bedarfsgemeinschaft bildeten. Das Jobcenter ging zunächst davon aus, dass eine Bedarfsgemeinschaft vorliege, da der Antragsteller weiterhin in der Wohnung seiner ehemaligen Partnerin lebte.

Der Antragsteller hingegen argumentierte, dass es sich um ein Untermietverhältnis handele. Er legte hierzu einen Untermietvertrag sowie eidesstattliche Erklärungen vor, in denen er und die Zeugin betonten, dass keine finanzielle Abhängigkeit bestehe und sie getrennt wirtschafteten.

Persönliche Befragung der Zeugin notwendig

Das Gericht entschied, dass die Aussagen der Zeugin durch eine Zeugenvernehmung erhoben werden mussten, da dies zur Aufklärung des Sachverhalts unverzichtbar sei. Eine persönliche Befragung der Zeugin fand im September 2024 statt.

Diese Befragung war entscheidend, da die Angaben über die getrennte Haushaltsführung, den unabhängigen Einkauf und die eigenständige Wäschepflege des Antragstellers als glaubhaft angesehen wurden. Die Aussagen der Zeugin widersprachen damit den Annahmen des Jobcenters.

Prüfungen durch das Jobcenter und Mängel bei der Ermittlung

Während des Verfahrens hatte das Jobcenter mehrere Prüfungen durchgeführt, um die vermutete Bedarfsgemeinschaft zu überprüfen. Hausbesuche und Befragungen sollten Klarheit über den gemeinsamen Haushalt des Antragstellers und der Zeugin bringen.

Allerdings wurden die Protokolle dieser Besuche nicht von den beteiligten Mitarbeitenden des Jobcenters unterschrieben, was ihren Beweiswert minderte.

Der Inhalt der Prüfprotokolle war oft nicht belegt und enthielt nur allgemeine Einschätzungen ohne detaillierte Nachweise.

Gericht kritisiert die Beweiserhebung des Jobcenters

Das Gericht stellte klar, dass die Nutzung von suggestiven Fragen und die mangelnde Trennung zwischen objektiven Tatsachen und subjektiven Bewertungen in den Protokollen die Ermittlungsergebnisse unzuverlässig machten. Die Beweiserhebungen des Jobcenters waren somit nicht hinreichend, um eine Bedarfsgemeinschaft zu belegen.

Kriterien für die Annahme einer Bedarfsgemeinschaft

Nach der geltenden Rechtslage wird das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft in bestimmten Fällen vermutet, etwa wenn Partner über ein Jahr zusammenleben oder gemeinsam für Kinder oder andere Haushaltsangehörige sorgen.

Das Gericht betonte, dass diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um von einer Bedarfsgemeinschaft ausgehen zu können. Das bloße Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt reicht nicht aus; es muss auch ein Wille zur gemeinsamen wirtschaftlichen Verantwortung bestehen.

Landessozialgericht sieht keine ausreichenden Hinweise

Das Landessozialgericht sah in diesem Fall keine ausreichenden Hinweise darauf, dass eine gemeinsame Haushaltsführung und finanzielle Verantwortung bestand.

Vielmehr wurden die trennenden Aspekte des Haushalts betont, wie getrennte Einkäufe, separat gehaltene Lebensmittelvorräte und die individuelle Aufteilung der Haushaltsaufgaben.

Diese deutlichen Hinweise auf eine Trennung der Lebensführung überzeugten das Gericht davon, dass es sich nicht um eine Bedarfsgemeinschaft handelte.

Bürgergeld als vorläufige Leistung zur Existenzsicherung

Das Gericht entschied, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Bürgergeld in voller Höhe habe, da die Voraussetzungen der Hilfebedürftigkeit vorlagen. Der Antragsteller verfügte über keine ausreichenden finanziellen Mittel, um seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Auch das Einkommen der Zeugin konnte nicht angerechnet werden, da keine Bedarfsgemeinschaft bestand.

Die vorläufige Leistung von Bürgergeld sei notwendig, um dem Antragsteller ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern.

Das Gericht stellte klar, dass die Zahlung des Bürgergeldes keine darlehensweise Gewährung darstelle, sondern der Sicherstellung der laufenden Bedürfnisse des Antragstellers diene. Diese Entscheidung solle bis zur rechtskräftigen Klärung in der Hauptsache gelten.

Freiwillige Krankenversicherung und Beitragsübernahme

Neben der vorläufigen Gewährung von Bürgergeld entschied das Gericht auch über die Übernahme der aufgelaufenen Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung des Antragstellers. Die Beitragsschulden in Höhe von 1.935,02 Euro müsse das Jobcenter direkt an die AOK Nordost überweisen.

Dieser Schritt sei erforderlich, um eine drohende Kündigung der Krankenversicherung und damit einhergehende gravierende gesundheitliche Nachteile für den Antragsteller zu vermeiden.

Das Gericht wies darauf hin, dass die gesetzlichen Grundlagen in diesem Fall den Zuschuss zur freiwilligen Krankenversicherung vorsehen, da keine gesetzliche Krankenversicherung besteht.

Der Anspruch auf Zuschuss entfällt, sobald das Jobcenter die endgültige Bewilligung von Bürgergeld vornimmt und die Versicherung kraft Gesetzes eintritt. Bis dahin ist jedoch die Beitragsübernahme notwendig, um eine Versorgungslücke zu verhindern.

Gericht kritisiert Handhabung des Jobcenters

Das Gericht kritisierte die Handhabung des Falles durch das Jobcenter in mehreren Punkten. Besonders hervorgehoben wurde die mangelnde Nachvollziehbarkeit der getroffenen Entscheidungen und die unzureichende Dokumentation der durchgeführten Hausbesuche.

Die suggestiven Fragen und die fehlende Unterscheidung zwischen objektiven Tatsachen und subjektiven Einschätzungen wurden als problematisch eingestuft.

Das Gericht stellte klar, dass die Sachverhaltsaufklärung durch das Jobcenter nicht ausreichend war, insbesondere im Hinblick auf die Trennung der Lebensverhältnisse des Antragstellers und der Zeugin.

Der Einsatz von Zeugenvernehmungen wurde als notwendig angesehen, um die Behauptungen des Antragstellers zu überprüfen, was vom Jobcenter jedoch nicht in ausreichendem Umfang veranlasst worden war.