Die Entscheidung des Sozialgerichts Freiburg vom 13. Januar 2022 (Az. S 9 AS 84/22 ER) weist dem Existenzsicherungsrecht eine neue Schneise – sie anerkennt den Heizbedarf eines obdachlosen Campers als Anspruch nach dem SGB II.
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Wie kam es überhaupt zu diesem Rechtsstreit?
Der Antragsteller, seit Jahren wohnungslos, übernachtet ganzjährig in einem Zelt in einem Waldstück nahe Freiburg. Schon seit 2016 bewilligte ihm das Jobcenter jeweils für die Wintermonate eine begrenzte Beihilfe zum Kauf von Propangas‑Kartuschen; im Herbst versagte die Behörde die Leistung jedoch mit der Begründung, ein Zelt sei keine „Unterkunft“ im Sinne des § 22 SGB II.
Daraufhin rief der Betroffene das Sozialgericht an und beantragte einstweiligen Rechtsschutz, um nicht ungeschützt der Winterkälte ausgesetzt zu sein.
Kann ein einfaches Zelt wirklich als „Unterkunft“ gelten?
Ja, sagt das Gericht: Eine Unterkunft müsse nicht alle Komfortstandards einer Wohnung erfüllen. Ein Zelt biete Wetterschutz und eine – wenn auch reduzierte – Privatsphäre; damit erreiche es das Mindestniveau, das das Bundessozialgericht schon 2010 für behelfsmäßige Schlafstätten formuliert habe.
Selbst wenn man diese Schwelle verneine, stehe dem Bedarf nichts entgegen, weil Heizkosten nach dem Gesetz auch ohne jede Unterkunft anerkannt werden können.
Grundrecht auf Menschenwürde
Wärme, so die Kammer, sei ein „elementarer Bestandteil des physischen Existenzminimums“. Wer friert, ist in seiner körperlichen Unversehrtheit und damit in seiner Menschenwürde unmittelbar gefährdet.
In solchen Fällen dürfe der Sozialstaat im Eilverfahren keine hohen Darlegungs‑ oder Beweislasten auferlegen; das Gericht setzte deshalb eine niedrige Schwelle für die Glaubhaftmachung des Anspruchs.
Welche Folgen hat der Beschluss für obdachlose Leistungsberechtigte?
Der Beschluss erleichtert es wohnungs‑ oder obdachlosen Menschen, während der kalten Jahreszeit Heizkostenbeihilfen geltend zu machen – selbst wenn sie keine klassische Miete zahlen.
Rechtsanwaltliche und wohnungslosenpolitische Initiativen bewerten die Entscheidung als bundesweit ersten richterlichen Schritt, die realen Lebensverhältnisse von Zeltbewohnern sozialrechtlich abzubilden.
Wie reagiert die Fachwelt auf das Urteil?
Sozialrechtler Dr. Manfred Hammel sieht in der Entscheidung eine konsequente Anwendung des Sozialstaatsprinzips: Wer im Freien lebt, dürfe nicht schlechter gestellt werden als Mieter, wenn es um existenzielle Bedarfe wie Heizung geht.
Was ändert sich dadurch in der Praxis der Jobcenter?
Behörden müssen künftig prüfen, ob obdachlose Leistungsberechtigte während der Heizperiode einen plausiblen, nachgewiesenen Bedarf an Brennstoff haben.
Die Höhe bleibt auf das Angemessene begrenzt – im Freiburger Fall setzte das Gericht 50 Euro monatlich als Obergrenze fest und verlangte Belege. Für die Jobcenter bedeutet das mehr Einzelfallprüfungen, statt sich auf formale Unterkunftsbegriffe zu stützen.
Welche Normen hat das Gericht herangezogen?
Die 9. Kammer stützte sich auf § 19 Abs. 1 S. 3 in Verbindung mit § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II. Beide Vorschriften garantieren Bedarfe „für Unterkunft und Heizung“ – und zwar alternativ, nicht kumulativ, wie die Richter ausdrücklich betonen. Entscheidend sei der Zweck der Norm: die Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen physisch‑existentiellen Minimums, zu dem Wärme unverzichtbar gehöre.